«Wir geniessen es, auch mal zu chillen»

Drei der vier Geschwister betreiben Kunstturnen als Spitzensport. In den kommenden zwei Wochen ist die Familie an der EM in München.
Treffen sich regelmässig beim Training in Magglingen: Matteo, Chiara und Luca Giubellini. (Bild: zvg)

Ein Tag Mitte Juli im Leben der Familie Giubellini aus Kirchdorf: Tochter Chiara (16) und Sohn Luca (19) sind mit Papa Daniel (53) in Biel und trainieren in Magglingen, Matteo (17) ist mit dem kantonalen Spitzennachwuchs im Kantonalen Turnzentrum Niederlenz, und Elio (13) weilt im Ferienlager. «Da fühle ich mich manchmal ganz schön einsam», sagt die vierfache Mutter Sabine (53) und lacht. Sie ist ganz allein im Familienhaus in Kirchdorf. Solche Tage sind aber keine Seltenheit, denn drei der vier Kinder betreiben Kunstturnen als Spitzensport. 

Vor einem Jahr zog Vater Daniel mit Chiara nach Biel, damit die 16-Jährige mit dem Nationalkader an der Eidgenössischen Sportschule Magglingen (ESSM) trainieren kann. In einer Gastfamilie zu wohnen, kam für Chiara nicht infrage, und so entschied man gemeinsam, dass Papa Daniel sie begleitet. «Das war aber nur möglich, weil ich dank meinem Arbeitgeber drei Tage pro Woche Homeoffice machen darf. Zwei Tage pendle ich nach Zürich», so Daniel Giubellini.

Anfang Juli ist nun auch Luca zur Bieler Familien-WG gestossen. Sabine blieb derweil mit Elio und Matteo in Kirchdorf, wobei auch der 18-Jährige Matteo 25 Stunden pro Woche in Niederlenz trainiert. Er absolviert das KV beim Schweizerischen Turnverband (STV) in Aarau.

Der Jüngste spielt Unihockey
Der Jüngste, Elio, hat ebenfalls einige Jahre geturnt, «aber er ist mehr der Freestyler», sagt Sabine: «Er ist jetzt im Unihockey und dort total glücklich.» Der 13-Jährige sei das einzige ihrer vier Kinder, welches «normal zur Schule geht und auch mal Zeit zum Pubertieren, Herumhängen und am Handy hat», fügt die ausgebildete Sportlehrerin lachend an. Für Chiara, Matteo und Luca stand hingegen früh fest, dass sie im Kunstturnen an die Spitze wollen. «Klar wäre es manchmal cool gewesen, wenn ich öfter an eine Geburtstagsparty hätte gehen können», sagt Luca rückblickend: «Aber ich habe nicht das Gefühl, viel verpasst zu haben.» Auch Matteo kennt schwierigere Phasen, in denen er nicht so Lust auf Training hat: «Zum Beispiel, wenn es schönes Wetter ist und man in die Badi könnte.» Mittlerweile haben auch alle drei mehr Freunde beim Turnen als in Obersiggenthal. «Wir trainieren ja auch seit Jahren in denselben Gruppen», sagt Luca. 

Der Älteste hat gerade das KV abgeschlossen und von den ­Junioren zur Elite gewechselt. An den Kunstturn-Europameisterschaften vom 11. bis zum 21. August in München ist Luca als jüngster Turner «nur» erster Ersatz. Chiara hingegen wurde erstmals für eine EM nominiert – und will in München «vor allem Erfahrungen sammeln». Matteo holte Ende Juli gerade zweimal Bronze und zwei vierte Plätze am European Youth Olympic Festival in Banskà Bystrica (SVK) und turnt ab dem 18. August an den Junioren-EM, die ebenfalls in München stattfinden. Sabine und Daniel Giubellini müssen sich deshalb einmal mehr «aufteilen»: Sie ist die ersten drei Tage bei Chiaras Wettkämpfen, er stösst am zweiten Wochenende dazu, um Matteo zu unterstützen. Elio bleibt bei einem Kollegen in Kirchdorf.

Nicht «der Sohn von …»
Sport und Bewegung haben bei den Giubellinis immer eine wichtige Rolle gespielt. Sabines Eltern haben um 1970 die Kutu-Riege Windisch gegründet. Sie selbst war lange im Vereinsgeräteturnen aktiv und ist heute regelmässig als Speakerin an Kunstturn-Meisterschaften im Einsatz. Daniel war selbst erfolgreicher Kunstturner, wurde 1990 Barren-Europameister und Schweizer Sportler des Jahres. Er geniesse es heute, einfach nur Vater und Zuschauer zu sein, beteuert der 53-Jährige: «Aber wir sagen unsere Meinung natürlich trotzdem», sind sich die Eltern einig – nicht immer nur zur Freude ihrer Kinder. Durch ihre eigenen Erfahrungen war den Eltern bewusst, was auf sie, aber auch auf ihre Kinder zukommt, wenn diese den Weg zum Spitzensport einschlagen würden. «Aber sowas entwickelt sich ja auch über die Jahre. Wir hatten nie das Gefühl, dass wir uns als Familie dem Sport extrem unterordnen mussten», erklärt Daniel Giubellini. 

Ist der berühmte Nachname für den Nachwuchs manchmal eine Hy­po-
thek – oder öffnete er gar Türen? ­Weder noch, findet Luca: «Den Namen kennt man halt, und wir werden oft darauf angesprochen. Aber es gibt keinen Bonus bei Trainern oder Kampfrichtern.» Matteo findet es hingegen «doof, der ‹Sohn von …› zu sein – ich bin Matteo». Und Chiara hatte früher durchaus mit Neid zu kämpfen: «Da hiess es oft, ich hätte den Giubellini-Bonus. Aber ich habe diese Kommentare einfach ignoriert.» 

Während sich Luca nach dem Ende seiner KV-Lehre bis zum Beginn der Spitzensport-RS im Oktober voll aufs Kunstturnen konzentrieren kann, sind Chiaras Tage durchgetaktet. Die 16-Jährige besucht die 3. Klasse am Oberstufenzentrum Rittermatte in Biel, einer Schule mit gemischten Sport- und Kulturklassen. Dort hat sie jeweils von 7.30 bis 10 Uhr Unterricht, danach Training bis 13 Uhr, und ab
15 Uhr steht wieder Training an – oft bis 18.30 Uhr. 

Gut möglich, dass auch Matteo in einem Jahr zur Familien-WG in Biel stossen wird. «Vielleicht müssen wir dann doch eine grössere Wohnung suchen», sagt Papa Daniel. Er wird in Biel bleiben, solange Chiara nicht volljährig ist. «Es wäre nicht fair, Luca die Verantwortung für seine jüngeren Geschwister zu übergeben», finden die Eltern. «Aber wenn sie 18 ist, wird Daniel zurückkehren», sagt Sabine. 

Finanzielle Unterstützung
Zwei Wohnsitze – das sei ein Privileg, sind sich Daniel und Sabine Giubellini bewusst: «Das kann sich wahrscheinlich nicht jede Familie leisten.» Die finanzielle und zeitliche Belastung ist mittlerweile aber nicht mehr so gross wie noch vor einigen Jahren: Chiara und Luca werden dank ihres Nationalkader-Status finanziell vom Schweizerischen Turnverband (STV) unterstützt. Sie erhalten einen Basislohn sowie Erfolgsprämien und das GA. Der STV zahlt zudem einen Beitrag an die Wohnungsmiete, wie er auch den Gastfamilien zusteht.  

Die Wohnsituation ist für die Eltern aber auch als Paar eine Herausforderung. «Wir müssen aufpassen, dass sich unsere Ehe nicht auf das Organisatorische reduziert», sagt Sabine. Um sich darauf vorzubereiten, hat das Paar im Vorfeld einen Ehekurs in seiner Freikirche absolviert: «Das half uns, dass wir uns Zeit füreinander nehmen und im Dialog bleiben.» Sabine Giubellini ist aber bewusst, dass die Belastung für ihren Mann hoch ist: «Er arbeitet hundert Prozent, muss den Haushalt in Biel führen und Chiara in der Schule unterstützen.»  

Auch wenn sie sich selten alle sehen: Für Familie Giubellini stimmt es so, wie es ist. Und wenn sie sich doch mal zufällig alle an einem Wochenende zu Hause in Kirchdorf treffen, dann unternehmen sie selten etwas: «Wir geniessen es, einfach mal alle zusammen zu chillen.»