Kurt Wernli, Sie engagieren sich seit vielen Jahren für den Nachwuchs in Ihrer Branche. Schauen Sie beim Bewerbungsgespräch mehr auf die Fakten, oder hören Sie auf Ihren Bauch?
Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber für mich ist das Bauchgefühl das Wichtigste. Klar gibt es Fakten, dazu gehören beispielsweise die Schulnoten. Die Anforderungen in unserer Branche sind hoch, deshalb muss ich sicher sein, dass die Lernenden das prästieren. Aber ich habe schon vielen, die nicht mit perfekten Noten glänzten, eine Chance gegeben und wurde positiv überrascht. Wesentlich ist für mich die Selbst- und Sozialkompetenz. Und ich muss das Gefühl haben: Die Person ist motiviert, diese Ausbildung zu machen. Während der Schnupperlehre betreue ich die Jugendlichen einen ganzen Tag lang selbst. Dann sehe ich, ob jemand handwerklich geschickt ist und zudem zuhören und Anweisungen umsetzen kann.
Sie haben ein aufwendiges Auswahlverfahren für Schnupperlehren entwickelt. Lohnt sich das?
Zugegeben, es ist zeitintensiv. Aber seit ich das so mache, habe ich weniger Nachteile in der Lehre. Bei uns muss man sich schriftlich für eine Schnupperlehre bewerben. Bereits da sortiere ich aus. Drei Vierteln der Bewerberinnen und Bewerber sage ich ab, weil es nicht passt. Defizite in der Selbst- und Sozialkompetenz will ich nicht hier im Betrieb nachholen. Das gäbe nur Unruhe. Ich schaue also über die Fakten und lasse das Gesamtbild auf mich wirken. Mein Bauchgefühl sagt dann sehr klar «Ja» oder «Nein». Ob mich die Menschen persönlich überzeugen, merke ich beim Vorstellungsgespräch. Der erste Eindruck ist entscheidend. Kommen sie zur Tür rein, weiss ich in der Regel schon nach zwei Sekunden, ob das gut kommt oder nicht.
Das heisst, Sie bräuchten eigentlich gar kein Gespräch mehr?
Doch, denn da erst finde ich heraus, ob der Beruf Elektroninstallatuer EFZ oder Montageelektriker EFZ – das sind die beiden Lehren, die wir anbieten – passt. Auch wenn mein Bauchgefühl gut ist, kann es immer noch sein, dass die Aufgaben, die es in unseren Berufen zu erfüllen gibt, nicht geeignet sind. Sowas spreche ich direkt an. Auch wenn jemand unvorbereitet kommt, nehme ich kein Blatt vor den Mund. Die Erfahrung zeigt: Es ist wichtig, ehrlich zu sein.
Wie haben Sie dieses spezifische Bewerbungsverfahren, in dem man bereits während der Schnupperlehre die Erfahrungen dokumentieren muss, aufgebaut?
Ich arbeite in Kommissionen mit, besuche Workshops zum Thema und bin im Austausch mit anderen Betrieben. So habe ich das Ausbildungskonzept entwickelt. In einem schriftlichen Dokument, dass alle Lernenden unterschreiben müssen, ist festgehalten, wie die Ausbildung läuft, was funktionieren muss und welche Konsequenzen ein Verstoss hat. Ich will, dass die Lernenden wissen, woran sie sind. Das Dokument hat 22 Seiten – es ist also relativ umfassend. Aber seit ich es eingeführt habe, läuft alles sehr gut. Klar, ich bin auch nicht superkonsequent, und manchmal lasse auch ich etwas durchgehen (schmunzelt).
Ihr grosses Engagement zeigt, dass Sie nebst fachlichen Skills auch ein grosses Interesse am Menschen haben. War das schon immer so?
Lernende betreue ich schon seit der Stifti, damals halt in kleinerem Rahmen. Meinen ersten richtigen Chefposten bekam ich bei den Industriellen Betrieben Brugg (IBB). Ich war als Ausbildner erfolgreich, und so blieb ich dabei. In all den Jahren habe ich viel Herzblut investiert, und ich habe gemerkt: Wenn man etwas gibt, kommt auch etwas retour. Zudem profitiere auch ich ein Leben lang von der guten Ausbildung, die ich erhalten habe. Das will ich weitergeben.
Sind Sie nicht manchmal mehr Psychologe als Ausbildner?
Eine Therapie biete ich definitiv nicht an (lacht). Aber klar: Ich bin nicht der Lehrmeister im klassischen Sinn, ich bin Coach – und mamchmal auch der Ersatzpapi. Die jungen Menschen sind offen zu mir, erzählen mir auch mal von ihren Problemen und von dem, was sie nebst dem Beruf beschäftigt. Ich habe viele schwierige Geschichten gehört, und sie gehen mir noch immer nahe. Ich hatte auch mal einen Lehrling mit Suizidgedanken. Mit ihm ging ich viel an der Aare spazieren. Er kam darüber hinweg. Sowas vergisst man nie.
Sie pflegen eine nahe Beziehung zu den Lernenden. Ist das kein Problem?
Ich habe vor acht Jahren das «Du» eingeführt. Damals gab es viel Widerstand im Betrieb. Aber ich bin überzeugt davon, dass diese Kommunikation auf Augenhöhe hilft. Sie baut Hemmschwellen ab, und ich hatte nie das Gefühl, dass jemand das ausnutzt. Im Gegenteil: Die Lernenden bringen mir grossen Respekt entgegen. Sie wissen, dass ich es gut meine und dass es mir um die Sache geht. Deshalb sage ich ganz direkt, wenn sie etwas gut machen, und ich interveniere auch, wenn sie einen Mist abliefern. Im Lager, das wir alle zwei Jahre durchführen, sind wir vier Tage intensiv zusammen. Da sehen sie mich nicht mehr nur als Chef, sondern auch als Menschen. Ich mag es, wenn wir uns in der Firma wie in einer Familie unterstützen und Probleme gemeinsam lösen.
Sie bauen also auf Vertrauen?
Vertrauen ist in meinem Job zentral, und zwar gegenseitiges. Ich gehe nicht überall kontrollieren und weiss, dass nicht alles eingehalten wird. Hauptsache, das Gesamte stimmt. Ich bin überzeugt, dass Lernende eine gewisse Freiheit brauchen. Oft vergleiche ich ihre Situation mit einer Autobahn. Fährt man geradlinig aufs Ziel zu, ist man am schnellsten. Aber das schafft niemand. Ein paar Schwenker sind erlaubt. Aber wenn man voll in die Leitplanke fährt, dann knallts.
Warum leistet sich die Jost Elektro AG einen Ausbildner wie Sie?
Auf dem Markt findet man aktuell kaum gute Fachkräfte. Wollen wir tolle Berufsleute im Betrieb haben, müssen wir sie selbst ausbilden. Da wir die Lernenden so intensiv begleiten, werden sie früher selbständig und folglich auch leistungsfähiger. Junge Menschen wollen nicht den «Gang go» spielen. Sie wollen Verantwortung übernehmen und einen guten Job machen.