Ohne Moralin und gute Ratschläge

Esther Gemsch (66) brilliert in der Kinokomödie «Die goldenen Jahre» als Frau, die nach der Pensionierung des Ehemanns ihre Bedürfnisse entdeckt.
«Ich wollte diese Alice unbedingt spielen»: Die Berner Schauspielerin Esther Gemsch. (Bild: zVg)

Sie ziehen in «Die goldenen Jahre» alle Register, um die Hauptfigur Alice in all ihren Facetten darzustellen. Hatten Sie nur auf diese Rolle gewartet?
Nachdem ich das Drehbuch von Petra Volpe auf einer Alp im Glarnerland gelesen hatte, rief ich sofort meine Castingfrau Corinna Glaus an und sagte: «Ich will diese Alice unbedingt spielen, und wenn ich dafür nach New York laufen muss, um mich bei Petra zu bewerben!»

Was hat Sie so begeistert?
Die Geschichte erzählt nicht einfach von einer Ehe, sondern von einer ganzen Familienkonstellation, die nach der Pensionierung des Mannes auf der Probe steht, und von der Lebenslust dieser Alice, und zwar auf eine ganz ehrliche Art, ohne zu moralisieren und gute Ratschläge zu erteilen. Das hat mich unglaublich berührt.

Wie würden Sie Alice beschreiben?
Sie ist eine liebenswerte Frau mit einer durchschnittlichen Ausbildung, die drei Kinder grossgezogen hat – nein, zwei, ich habe drei Kinder grossgezogen! (Lacht) Alice ist nebenher arbeiten gegangen, damit man sich das Einfamilienhaus leisten konnte. Sie meldete nie grosse Ansprüche an und versuchte – wie viele andere – die Erfüllung ihrer Träume, Wünsche und Visionen für die Zeit nach der Pensionierung aufzusparen.

Sie selbst waren dreimal ver­heiratet. Waren es bei Ihnen auch Routine und Gleichgültigkeit, die Sie ausbrechen liessen?
Erstens bin auch ich verlassen ­worden und nicht nur ausgebrochen. Zweitens habe ich immer zu kämpfen versucht, wenn ich merkte, dass in der Beziehung etwas nicht stimmte. Wobei es zwei braucht, die am gleichen Strick ziehen, wenn man sie retten will …

Hat sich Ihre eigene Vorstellung von der Ehe im Lauf der Zeit verändert?
Ich habe Jahrgang 1956 und noch gepredigt bekommen: «Du muesch guet chönne choche und nähie, aber vor allem e Liäbi si, we’d e guete Maa wotsch!» (Lacht) Ich war nicht so eine, sondern glaubte an die romantische Liebe. Ich dachte, wenn ich die gefunden habe, würde alles gut werden. Aber das ist falsch! Viele Menschen sind verliebt in die Verliebtheit, die nur ein vorüber­gehender Zustand ist. Sie haben nie gelernt, dass Liebe etwas ganz anderes ist. Liebe verlangt unter anderem, dass man am anderen Menschen dranbleibt, gegenseitig nachfragt, sich Raum lässt.

Weshalb sind Sie mit sechzehn zu Hause ausgezogen?
Mein Vater und meine Mutter waren grossartige, aber total unterschiedliche Menschen. Es hat zwischen ihnen keinen lauten Krach gegeben, aber ich habe enorm unter der von Unverständnis bis Verachtung reichenden Stimmung zwischen ihnen gelitten. Das war für mich der Grund zu gehen und nach der grossen Liebe zu suchen, die ich nur aus Romanen kannte.

Haben Sie diese jemals gefunden?
Ich glaube nicht, nein. Der Vater meiner Kinder ist ein sehr spannender Mensch, aber ein Einzelgänger. Wir waren wie zwei verlorene Katzen, die sich beim Streunen irgendwo trafen und das Gefühl hatten, wenn sie sich zusammentun, kommt es schon gut …

Sie bekommen Ihre AHV seit anderthalb Jahren. War die Pensionierung auch für Sie eine Zäsur, obwohl eine Schauspielerin ja nie ­aufhört, zu arbeiten?
Nein, die kam bei mir schon mit sechzig, als da plötzlich eine Sechs statt eine Fünf stand und klar war, dass nächstes Mal eine Sieben und vielleicht noch eine Acht kommen würde. Ich hatte jedoch schon früh begriffen, dass das Leben eine einzige Veränderung ist und man selten bekommt, was man erwartet. Zudem empfinde ich es trotz allem als Segen, alt werden zu dürfen, nicht als Fluch.

Wäre eine Alters-WG für Sie eine alternative Lebensform?
Vielleicht, aber ein eigenes Bad ist mir schon ganz, ganz wichtig! Zweierbeziehungen kommen auf jeden Fall nicht mehr infrage.

Auch nicht ohne Trauschein?
(Lacht) Ich liebe meine Kinder und Grosskinder abgöttisch! Vom Wunsch nach einem Partner, mit dem ich alles teilen will, bin ich mittlerweile weit entfernt. Ich habe einen sehr guten Freund. Wenn wir uns brauchen, sind wir füreinander da und unterstützen uns. Die Sexualität hat sich für mich verändert. Tiefe Verbundenheit und Freundschaft sind mir heute wichtig. Natürlich kann man sich darauf konzentrieren, was man verloren hat, und dem heulend hinterherrennen. Oder aber man freut sich über die Freiheit, die man gewonnen hat.