Sie ist nun als «Sterbeamme» unterwegs

Pünktlich zu ihrem 60. Geburtstag hat Rita Nussbaumer ihre Praxis aufgegeben. Nun begleitet sie Menschen rund ums Thema Lebensübergänge.
Liebt die Nähe zur Natur: Rita Nussbaumer in ihrem Wohnzimmer in Riniken. (Bild: aru)

33 Jahre lang war Rita Nussbaumer für ihre Klientinnen und Klienten da. Die erfahrene Komplementärtherapeutin bot in ihrer Praxis Meridiana in Brugg ein breites Spektrum an Therapien an, ihr Spezialgebiet aber war die Manuelle Lymphdrainage. «Ich habe meinen Beruf mit grosser Freude ausgeübt», sagt sie beim Gespräch in ihrem gemütlichen Holzhaus in Riniken, in welches die Mutter zwei erwachsener Kinder vor einigen Monaten gezogen ist. Und doch hatte sie immer vor, mit sechzig Jahren aufzuhören. «Noch bevor ich dreissig wurde, sagte ich zu mir: Mit sechzig Jahren wirst du genug Lebenserfahrung haben, um dich etwas Tieferem zuzuwenden», erzählt sie. Sie wünsche sich einen Wechsel, der nicht mehr die Anatomie, «den Körper als Materie» ins Zentrum stelle, sondern die seelisch-geistige Ebene stärker miteinbeziehe. Natürlich habe sie als Komplementärtherapeutin stets viele Dimensionen des Menschseins integriert, «aber mein Alltag hat sich vorwiegend um körperliche Beschwerden gedreht».

«Man muss alles ansprechen»
Nun will sich Rita Nussbaumer «auf die Essenz konzentrieren». Damit sie den Kopf frei hat für etwas Neues, hat sie ihre Praxis im Haus der Medizin in Brugg, für die sie eine «ideale Nachfolgelösung» gefunden hatte, kurz vor ihrem sechzigsten Geburtstag, dem
26. November, geschlossen. Dass die Weiterführung der Praxis vom Verwaltungsrat nicht unterstützt wurde (siehe Artikel «Rochade im Haus der Medizin»), kann sie nicht verstehen. «In einer Zeit, in der das Bedürfnis nach komplementären Therapien so gross ist, kann ich nicht nachvollziehen, dass man ein Angebot wie Lymphdrainage, das die traditionelle Medizin optimal ergänzt, in einem Gesundheitszentrum nicht mehr weiterführen will.»

Doch lange hadern will Nussbaumer nicht. Sie sehe das Ganze nun als Lebensschule an. Es gelte, loszulassen – «etwas, das in Anbetracht der Endlichkeit sehr wichtig ist». Das Sterben hat sie schon als Jugendliche interessiert. Als sie ihre erste Weltreise antrat, sagte sie ihrer Mutter, was – im Falle, dass sie nicht zurückkehrt – mit ihren Dingen geschehen soll. «Gehts um den Tod, darf man kein Blatt vor den Mund nehmen», ist die Therapeutin überzeugt. «Man soll alles ansprechen – denn jeder Tag kann der letzte sein.» Ihre direkte Art hilft Rita Nussbaumer, auch Tabus auf den Tisch zu bringen. Als erfahrene Pilgerin und Berggängerin ist sie darin geübt, den sich verändernden Situationen offen zu begegnen und mutig nach neuen Wegen zu suchen. «Ich werfe mich gern ins kalte Wasser», schmunzelt Rita Nussbaumer, «und bin mir bewusst, dass jede Situation ganz anders ist und Offenheit und Kreativität erfordert›».

Sterben als natürlicher Prozess
Das gilt nicht nur hinsichtlich ihres eigenen Lebensübergangs, bei dem sie mit sechzig Jahren nochmals etwas Neues anpackt, sondern auch für ihre neue Tätigkeit. In den vergangenen Jahren hat Rita Nussbaumer verschiedene Weiterbildungen absolviert, unter anderem im Coaching-Bereich und in der Sterbe- und Trauerbegleitung. «Die Frage, wie es nach dem Tod weitergeht, interessiert mich ebenso sehr wie der Sinn des Lebens», erzählt sie. Inspiriert von den Hebammen, die sie bei ihren zwei Hausgeburten begleitet haben, sieht sie sich in ihrer neuen Tätigkeit denn auch als «Sterbeamme». Die Einordnung des Lebens wie des Sterbens in einen natürlichen Prozess ist ihr ein grosses Anliegen. «Ich will die Menschen vorbereiten auf diesen grossen Übergang im Leben», sagt Nussbaumer. «Wesentlich dabei ist das Vertrauen in die Natur, deren Teil auch wir Menschen sind.»

Die Einordnung in ein grosses Ganzes ist für die Therapeutin essenziell – und dies in einem «sehr offenen Sinn, der gänzlich frei ist von einer konfessionellen Zugehörigkeit», wie sie betont. Damit ihre Art der Begleitung die Menschen möglichst in ihrer vertrauten Umgebung abholt, ist Rita Nussbaumer in Zukunft mit ihrem neuen Elektrosmart – «mein erstes Auto überhaupt» – unterwegs zu ihren Klientinnen und Klienten. Ihr Wunsch ist es, nicht nur einzelne Personen zu begleiten, sondern ganze Familien. «Gerade wenns um den nahen Tod geht, sind alle im System betroffen», weiss sie aus eigener Erfahrung. Da gelte es, zumal oft «alte Geschichten» hochkommen, zuzuhören und integrierend und verbindend zu wirken. «Es ist wichtig, dass auch unangenehme Dinge angesprochen werden», sagt die Lebensbegleiterin. Das wirke erlösend und befreiend.

Grosses Gespür für die Menschen
Aber auch ganz pragmatische Fragen wie schmerzlindernde Massnahmen oder die Wahl der Bestattung kann man mit Rita Nussbaumer besprechen. Um sich auf ihre neue Tätigkeit vorzubereiten, hat sie viele Praktika absolviert – in Pflegeheimen, Palliativabteilungen, Hospizen und bei Bestattern. Ihre breite Erfahrung will die Fachfrau nun in ihr Unternehmen mit dem Namen «Lebens-Wende» (lebens-w-ende.ch) einbringen. Sie habe in all den Jahren als Komplementärtherapeutin ein grosses Gespür für die Bedürfnisse der Menschen entwickelt. «Und ich werde – wenn das gewünscht wird – auch gerne weiterhin meine Hände in den Dienst des Menschen stellen», sagt sie. Manchmal wirke eine Massage, ein Wickel oder eine Lymphdrainage Wunder. Auch die Aromatherapie, die sie mit ihrem ersten Brugger Praxispartner, Theo Vogel, schweizweit in Schulungen weitergegeben hat, wird in ihre Tätigkeit einfliessen. «Und ich freue mich darauf, wieder mehr Zeit zu haben für die einzelnen Klientinnen und Klienten», strahlt Rita Nussbaumer. Diese Qualität komme im Schweizer Gesundheitswesen viel zu kurz. «Ich bedaure das zutiefst», sagt sie. «Denn die Hinwendung in einem Gespräch bewirkt oft mehr als eine Kaskade von Untersuchungen und Tests».