Er hungert, um gehört zu werden

Nadir Ulaş verweigert aus Protest gegen sein überlanges Asylverfahren Nahrung. Seine Situation ist kein Einzelfall.
Nadir Ulaş wartet seit fünfeinhalb Jahren darauf, seine Frau und seine Kinder wiederzusehen. (Bild: mk)

Als er Fotos seiner Heimat in der Osttürkei auf dem Handy zeigt, weicht die Anspannung in seinem Gesicht Wärme und Stolz. Landschaften wie aus dem Ferienkatalog, sein Grossvater mit langem weissem Bart, er selbst in jungen Jahren mit den Kindern auf dem Schoss. «Ich hatte ein Haus mit Garten und meine ganze Verwandtschaft um mich. Das Leben war gut», sagt Nadir Ulaş. Heute bewohnt er in der Neuenhofer Asylunterkunft ein karges Zweierzimmer und schwankt zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Aktuelle Handyfotos zeigen seine Frau, seine elfjährige Tochter und seinen vierzehnjährigen Sohn. Er hat sie seit fünfeinhalb Jahren nicht mehr gesehen, denn so lange dauert sein Asylverfahren schon an. Und solange es nicht abgeschlossen ist, darf er weder ausreisen noch seine Liebsten in die Schweiz holen. «Meine Tochter weint oft, und mein Sohn wird ohne mich erwachsen», sagt der 38-Jährige. Weil er das Warten und die Ungewissheit nicht mehr aushält, ist er seit 44 Tagen im Hungerstreik.

Wasser mit Zitrone, Tee, Kaffee und etwas Salz ist alles, was er zu sich nimmt. Die mitgebrachten Bouillonwürfel lehnt er umgehend ab. Ulaş klagt nicht, zählt auf Nachfrage aber die Beschwerden auf, die das fortgesetzte Fasten mit sich bringt: Rückenweh, Kopf- und Augenschmerzen, dazu Vergesslichkeit. Mehrmals entschuldigt er sich, weil er sich den Namen der Reporterin nicht merken kann.

Bangen seit fünf Jahren
Nadir Ulaş ist 2017 in die Schweiz geflüchtet. Als Aktivist der kurdischen Oppositionspartei HDP war er schon länger im Visier der türkischen Behörden. Nach der Teilnahme an einer Demonstration wurde er verhaftet und «schlecht behandelt», seither läuft ein Strafverfahren gegen ihn. Um Schlimmerem zu entgehen, verliess er bei nächster Gelegenheit die Türkei, ohne seine Familie mitnehmen zu können. Sein Asylgesuch wurde nach drei Jahren erstinstanzlich abgelehnt. Die darauf eingelegte Beschwerde, die neue Beweismittel für seine Verfolgung enthält, ist wiederum seit zwei Jahren hängig.

Das Bundesverwaltungsgericht, das nun am Zug ist, weiss vom Hungerstreik und teilte mit, Ulaş’ Fall werde nach Möglichkeit prioritär behandelt. Ein Termin wird nicht genannt. Das Grundproblem dahinter: Die Schweiz möchte so viele Asylverfahren wie möglich beschleunigt abwickeln. Chancenlose Gesuche werden rasch abgewiesen, aussichtsreichere Anträge geraten dagegen oft auf die Wartebank. Ulaş ist kein Einzelfall. Auch sein kurdischer Kollege, der beim Gespräch via Handy übersetzt, wartet seit fünf Jahren auf den Entscheid. Der «Rundschau» sind in der Region drei weitere Kurden und vier Iraner bekannt, die ebenso lange Fristen erdulden müssen.

In dieser Zeit findet ihr Leben auf Sparflamme statt. Als Person im Asylverfahren bekommt Nadir Ulaş neun Franken am Tag. Lieber würde er arbeiten, seine Hände lassen handwerkliches Geschick erahnen. «Ich war als Schweisser und Tischler tätig und immer stolz darauf, produktiv zu sein», sagt er.

Zur Untätigkeit verdammt
Doch seine Bewerbungen waren erfolglos, denn Personen ohne definitiven Aufenthaltsstatus dürfen nur eingestellt werden, wenn sich niemand anderes findet, und selbst dann wird nur eine provisorische Arbeitsbewilligung erteilt. Vielen Unternehmen ist das zu unsicher. So ist der Kurde seit fünfeinhalb Jahren zur Passivität verdammt. «Seit ich in der Schweiz bin, habe ich fast 500 Bücher gelesen», sagt er. Auf dem Zimmertisch stapeln sich über 50 Bände, Politisches neben Literaturklassikern. Zuoberst liegt ein Werk von Orhan Pamuk.

Ulaş’ Familie harrt derweil in der Türkei aus. Dass er sie in der schweren dortigen Wirtschaftskrise nicht finanziell unterstützen kann, macht ihm zusätzlich zu schaffen. Was ihn aufbaut, ist die Solidarität, die er hier erfährt. «Ich schätze die Schweizer sehr und habe hier grossartige Menschen kennengelernt», sagt er. Er wolle auch niemanden verärgern mit seinem Hungerprotest, sondern auf seine unerträgliche Situation aufmerksam machen. «Bitte lass alle meine Stimme hören! Ich möchte endlich meine Familie in die Arme schliessen und ein normales Leben führen», fleht Nadir Ulaş inständig. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich zunehmend, und er hat angekündigt, auch das Trinken einzustellen, sollte der Entscheid weiter ausbleiben.