Als ich im vierten Stock des Pflegezentrums Süssbach an ihre Tür klopfe und eintrete, steht Antoinette Zehnder am Fenster mit Ausbilck auf die Stadt und den Bruggerberg. Sie öffnet es und lässt die frische Winterluft hereinströmen. Einen tiefen Atemzug später begrüsst sie mich herzlich und bittet mich, im weichen Lehnstuhl im gemütlich eingerichteten Zimmer Platz zu nehmen. «Sind Sie bequem so?», fragt sie mich. Das Wohlergehen ihrer Mitmenschen ist ihr wichtig – und das Zeit ihres langen Lebens. «Ich war immer verbunden mit der Umwelt, habe zu den meisten Menschen gleich einen guten Draht», erzählt sie und legt dabei die Hand auf ihr Herz. «Ich bin ein offener Mensch», fügt sie an, «und ich habe die Menschen einfach gern.»
Leuchtende Erinnerungen
Noch bevor ich die erste Frage stellen kann, erzählt sie von einer Erinnerung, die sie an mich hat. «Als ich einmal bei Ihrer Mutter in der Rathaus-Apotheke einkaufte, setzte sie Sie ganz unkompliziert auf den Korpus und bediente mich», sagt sie. «Dieses Bild habe ich nie vergessen.» Das war vor fast fünfzig Jahren, ich war damals etwa zwei Jahre alt. Noch viele Erinnerungen wird mir Antoinette Zehnder an diesem Nachmittag erzählen, und jede davon ist so detailreich und lebendig in ihr, als wäre es gestern gewesen. Dass sie am 31. Januar, einen Tag nach meinem Besuch, ihren hundertsten Geburtstag feiert, mutet unglaublich an. «Ach, wissen Sie, das ist für mich ein Tag wie jeder andere», sagt sie schmunzelnd, «nur ein wenig anstrengender.» In ihrem Alter habe die Zeit ein anderes Mass. In ruhigem Tempo fliesse sie dahin – der Takt von Daten und Uhrzeiten verliere an Bedeutung. «Es geschieht, was geschieht, und alles hat seine Zeit.»
Was sie an ihrem runden Geburtstag freut, sind die Besuche ihrer Familie. Gestern habe sie mit ihren vier Kindern – «der jüngste Sohn wird bald pensioniert» – im Bad Schinznach gefeiert, erzählt sie voller Dankbarkeit. «Wir haben es einfach gut miteinander – und das ist das Wichtigste.» Sie meine damit aber nicht ein naives Schönreden, präzisiert sie. Es gebe auch in ihrem Alltag Dinge, «die nicht so angenehm sind». Aber aufregen möge sie sich nicht mehr – und reklamieren und jammern schon gar nicht. «Ich schaue auf das, was mich freut und was mich trägt.»
Liebe am Sommernachtsfest
Das Leben der Jubilarin ist voll von spannenden Stationen und Episoden. Ihr lediger Name «Indra» weist auf ihren tschechischen Vater hin, der aufgrund seines Rheumas in die Schweiz zum Kuren kam und sich dabei in Baden in die Tochter einer Mitpatientin verliebte. Das junge Paar zog zuerst nach Chur, wo der gelernte Bäcker-Konditor ein Hotel führte. «Ich wurde in den Bergen geboren», erzählt Antoinette Zehnder. Es folgte der Umzug nach Arbon, wo ihr Vater – «er lebte die Philosophie von Gottlieb Duttweiler» – ein Detailhandelsgeschäft aufbaute, das florierte. Später zog die Familie nach Baden, wo er erneut ein Geschäft gründete. «Dieses lief aber nicht so recht – das Umfeld im gehobenen Quartier passte nicht zum Ideal meines Vaters», erzählt Antoinette Zehnder.
Während ihr Vater sehr alt wurde, starb ihre Mutter bereits mit 47 Jahren an einem medizinischen Kunstfehler – «da war ich knapp zwanzig Jahre alt». Ihre Ausbildung zur Kinderkrankenschwester absolvierte Antoinette Zehnder im Welschland, wo sie auch aufgrund ihrer Tante oft war. An einem Sommernachtsfest auf der Halbinsel Au verliebte sie sich in Rudolf Zehnder, den sie mit 24 Jahren heiratete. «Ich erinnere mich noch gut an unsere erste Begegnung», strahlt Antoinette Zehnder und wischt sich die Tränen vom Gesicht. Sie habe oft «Langiziit» nach ihrem Mann, der Ende April 2020 mit fast 99 Jahren starb – und das Alter habe sie dünnhäutiger gemacht.
Als junges Paar zogen sie ins Tessin, wo Rudolf fünf Jahre lang beim Kantonalen Forstamt in Bellinzona tätig war. «Das war eine lange, reiche Zeit», erzählt Antoinette Zehnder. Sie habe drei Kinder bekommen und gemeinsam mit ihrem Mann die ganze Region erwandert. «Das Spazieren ist noch heute meine grosse Leidenschaft.» Sie versuche, jeden Tag nach draussen zu gehen. Später folgten Stationen in Rheinfelden und Brugg, wo ihr Mann Stadtoberförster wurde. «Wir haben an einem neuen Ort immer schnell Fuss gefasst», berichtet sie. Sie habe sich schon immer sehr für die Natur interessiert und viel vom Wissen ihres Mannes profitiert. In Brugg fühlte sie sich wohl, und sie schloss viele Freundschaften. Am Wichtigsten war ihr aber immer ihre Familie, zu der auch ihre Schwiegereltern gehörten. «Wir waren nicht immer einig, aber wir hatten es gut – und das ist heute noch so mit meinen vier Kindern.» Sie wolle nicht übertreiben. «Es ist einfach so normal, wir haben einander gern.» Ihre Liebe zu den Menschen und ihre Fähigkeit, offen auf Neues zuzugehen, hat die Jubilarin bis ins hohe Alter bewahrt. Sie sei an vielen Orten zu Hause, sagt sie – und erzählt, dass ihre Träume in der Nacht ganz intensiv seien. «Wenn ich am Morgen erwache, muss ich mich zuerst wieder orientieren und schauen, wo ich eigentlich bin», erzählt sie. Im Süssbach habe sie sich gut eingelebt, sie habe liebe Menschen um sich herum. «Ich bleibe jetzt da, solange ich da bin», sagt sie zum Schluss in einer grossen Ruhe. «Und es ist gut so.»