Karate kennt keine Altersgrenze

Die 73-jährige Mireille Ernst und der bald 70 Jahre alte Walter Buchmann zeigen, dass Karate auch eine Sportart für Senioren ist.
Trainerin Nicole Müri überprüft die korrekte Ausführung von Walter Buchmann. Links Mireille Ernst. (Bild: mpm)

Als Mireille Ernst und Walter Buchmann im Jahr 2020 einem Aufruf der Pro Senectute folgten, dachten sie wohl nicht daran, dass dies der Anfang einer neuen Leidenschaft sein würde. Ein junger Maturand, selber Karateka, suchte Männer und Frauen im Alter zwischen 60 und 80 Jahren, um aufzuzeigen, dass Karate auch eine Sportart für Senioren ist und insbesondere für diese Altersgruppe zahlreiche Vorteile mit sich bringen kann. Der Träger des Schwarzgurts unterrichtete die beiden in rund zehn Lektionen – und weckte damit ihre Freude an diesem Sport. «Als die Lektionen vorbei waren, wollten wir das gerne weiter praktizieren», erzählt Mireille Ernst. «Leider konnte der junge Maturand uns ausserhalb des Projekts nicht mehr unterrichten, und so begann die Suche nach einem geeigneten Trainingsort.»

Dabei stiessen sie auf das Schnupperangebot für Senioren des Kampfsportcenters Siggenthal. «Wir waren froh, dies zunächst in einer Art geschütztem Rahmen machen zu können», fährt sie fort. Dadurch hätten sie weniger Berührungsängste gehabt, als wenn sie direkt in eine gemischte Anfängergruppe eingestiegen wären.

Valentino Di Lascia und sein Trainerteam hätten ihnen sehr viel Zuversicht gegeben, und sie seien auch nach den acht Schnuppertrainings dabeigeblieben. Im September 2022 absolvierten die beiden die Prüfung zum gelben Gürtel; im März 2023 steht nun die Prüfung zum orangen Gürtel an. Dies ist aussergewöhnlich, weil zwischen den Prüfungen üblicherweise ein Jahr vergeht, um sich vorbereiten zu können. Aber Mireille Ernst und Walter Buchmann seien derart diszipliniert und engagiert, dass sie die Prüfung ein halbes Jahr früher machen können, erklärt Di Lascia.

Mireille Ernst, die im Februar 73 Jahre alt wird, und Walter Buchmann – ebenfalls fast 70 Jahre alt – sind Ausnahmen im Karate-Sport. Auch heute noch sind Senioren nur selten in den Karate-Dojos anzutreffen. Dabei wäre es gerade für diese Altersgruppe ein sinnvoller Sport. «Karate hilft uns, Kondition, Kraft, Beweglichkeit, Gleichgewicht und auch Konzentration aufzubauen», erklärt Walter Buchmann.

Falsche Vorstellungen korrigieren
Zahlreiche Stürze würden beispielsweise durch Stolpern verursacht, durch fehlende Standfestigkeit oder mangelndes Gleichgewicht. Ein Karate-Training könne dem entgegenwirken. Zudem fühle man sich generell sicherer, geht es beim Karate doch auch um Selbstverteidigung.

Der Grund für die Zurückhaltung älterer Menschen gegenüber dieser Sportart ist unklar. Möglicherweise liege es daran, dass die Leute ein falsches Bild von dem Sport haben, meint Walter Buchmann. «Man stellt sich vor dem inneren Auge dann kämpfende, schlagende Menschen vor, die andere umstossen», vermutet auch Mireille Ernst. Das entspreche jedoch überhaupt nicht der Realität, wie auch das Training zeigt.

Nach der Begrüssung, dem Aufwärmen und dem Basistraining einzelner Techniken werden Katas geübt. Eine Kata ist eine Art stilisierter Kampf gegen einen imaginären Gegner, dessen Bewegungsabfolge genau vorgegeben ist. Die Bewegungen werden auf japanische Zählkommandos ausgeführt, wobei grosser Wert auf die technisch korrekte Durchführung gelegt wird. Die Abfolge der Bewegungen, die Richtungs- und Seitenwechsel seien manchmal eine Herausforderung, so Mireille Ernst. «Nach einem 90-minütigen Training bin ich auch geistig oft müde, und zu Beginn kommt man sich häufig etwas verloren vor», gibt sie zu. Aber wenn sie dann ein Kata beherrsche, sei das «ein wahnsinnig tolles Gefühl». Valentino Di Lascia, nebst Karate-Sensei auch ausgebildeter Seniorensportleiter, findet es sehr schade, dass Karate in der Schweiz so selten mit Seniorensport in Verbindung gebracht wird. In Japan sei das ganz anders, dort begleite Karate die Menschen oft von Kindesbeinen an bis ins hohe Alter. «Das ist wie bei uns der Turn­verein», erklärt er. «Karate wird regelmässig praktiziert, und es hält körperlich und geistig fit.»

Karate ist das neue Seniorenturnen: Mireille Ernst und Walter Buchmann haben mit über siebzig noch mit Karate angefangen. (Bild: mpm)

Karate statt Seniorenturnen
Während beispielsweise das Seniorenturnen in der Schweiz durchwegs anerkannt ist, sei das bei Karate nicht der Fall. Zudem sei das Kampfsportcenter wie eine grosse Familie: «Alle Altersgruppen trainieren in verschiedenen Gruppen, innerhalb deren ein respektvoller Umgang gepflegt wird.» Auf die Frage, ob sie denn nun vorhaben, den Weg bis zum schwarzen Gürtel zu gehen, betonen sowohl Mireille als auch Walter: «Es geht eher um den Weg, um das Karate an sich.» Schöner könnten sie die ­Essenz dieser Sportart als Lebenseinstellung und Lebensweg nicht beschreiben.