«Es herrschten apokalyptische Zustände»

Daniel Aeschbach (59) ist von seinem Einsatz im Erdbebengebiet in der Türkei zurück­gekehrt. Wie verarbeitet er die Bilder im Kopf?
Daniel Aeschbach (rechts) mit Holger Sommer und Joël Schwendimann. (bild: zvg)

Daniel Aeschbach ist müde und erschöpft. Vor vier Stunden ist er via Istanbul und Frankfurt aus der Türkei zurückgekehrt. Sechs Tage lang hat der 59-jährige Freienwiler in der südanatolischen Stadt Kahramanmaras nach den verheerenden Erdbeben am 6. Februar Einsatz geleistet. Bis Dienstag hatte die Naturkatastrophe rund 37 500 Todesopfer in der Türkei und in Syrien gefordert. 24 Millionen Menschen sind vom Erdbeben betroffen. Und die Zahlen steigen weiter.

Der Internationale Katastrophenschutz @fire gehört bei solchen Ereignissen immer zu den Ersten, die am Ort des Geschehens eintreffen, um nach Überlebenden zu suchen. @fire wurde im Jahr 2021 von der «International Search and Rescue Advisory Group» der Vereinten Nationen als weltweit erstes «Light USAR Team» klassifiziert. Die Einsätze sind auf fünf Tage befristet. «Je früher man uns holt, desto mehr können wir erreichen.» Drei Tage lang kann ein Verschütteter ohne Wasser überleben. 

Fünf Menschenleben gerettet
Die insgesamt vierzig Katastrophenhelferinnen und -helfer von @fire haben verschiedene Aufgaben in der 600 000-Einwohner-Stadt. Zwei sind beim Reception/Department-Center am Flughafen Adana eingeteilt. Aeschbach ist mit einem Trupp in den Trümmern der Stadt unterwegs. «Es herrschten apokalyptische Zustände, ich fühlte mich wie auf ‹Ground Zero›. Man steigt über Schuttberge, in denen Puppen und Spielzeuge zu sehen sind. Da weisst du: Hier drunter könnte eine ganze Familie sein», schildert er.

Mittels hochspezialisierten Horchgeräten werden Geräusche identifiziert. «Wenn man etwas hört, setzt man einen Pfeifton ab, und augenblicklich werden alle rundherum still», erzählt Aeschbach. Oft wird diese Arbeit durch den unkoordinierten Einsatz von Baggern erschwert – Einheimische, die verzweifelt nach Angehörigen suchen. «Das ist zwar nachvollziehbar, aber die Reihenfolge stimmt halt nicht.» Die total 131 internationalen Hilfsorganisationen gehen koordiniert nach Stufen vor. Fünf Menschen können die Einsatzkräfte von @fire in den sechs Tagen bergen. «Auch wenn wir nur ein einziges Leben retten können, hat sich unser Einsatz schon gelohnt», sagt Daniel Aeschbach überzeugt. Viel öfter aber ist nichts mehr zu machen, müssen Leichen geborgen werden. Als die Temperaturen ansteigen, kommt der Verwesungsgeruch. «Es sind diese Sinneswahrnehmungen, die bleiben», weiss der Freienwiler. Während er erzählt, klingelt es pausenlos auf seinem Handy an. Er entschuldigt sich: «Das sind Whats­App von unserer Gruppe. Ich habe allen beim Abschied in Frankfurt Hausaufgaben gegeben: Sie müssen mir bis Donnerstag mitteilen, mit wem sie ein tiefgehendes Gespräch über das Erlebte führen und was sie sich Gutes tun nach ihrer Ankunft zu Hause.»

Alles in Trümmern: Die Einsatzkräfte von @fire bei ihrer Suche nach Verschütteten in Kahramanmaras. (Bild: zVg)

Unterstützung als «Peer»
Aeschbach ist ein sogenannter Peer, der nach belastenden Ereignissen zur Stressverarbeitung für die Betreuung der Einsatzkräfte zum Einsatz kommt. Vor zwei Jahren war der Freienwiler nach der Hochwasser­katastrophe im deutschen Ahrweiler im Einsatz. Er vermisste damals ein psychologisches Debriefing, systematische Gespräche, die eine Verarbeitung erst möglich machen. Der Aargauer setzte sich bei @fire für Peers ein. Mit Erfolg. Er wurde selber einer.

Bilder von Leichen am Strassenrand stecke man nicht einfach in eine Schublade und sei sie dann los, weiss er. «Man kann definitiv nicht sagen, das interessiert mich nicht. Denn es ist nicht fertig.» Früher oder später holen einen die Bilder ein. Bei den meisten gehe es 48 Stunden nach Ende eines Einsatzes los. «Gespräche sind das Wichtigste. Je mehr man darüber spricht, desto besser kann man loslassen. Und plötzlich sind diese Bilder im Kopf nicht mehr gleich schlimm», so der Helfer.

Aber auch schöne, emotionale Momente treiben den Beteiligten noch lange Tränen in die Augen. Etwa der Abschied aus der «Base of operation» in Kahramanmaras. «Als wir am Sonntag zum Flughafen Adana aufbrachen, sagten uns die Menschen, wir seien Engel für sie, wie Brüder», erzählt der erfahrene Feuerwehrmann. Die internationalen Helfer haben den Zurückbleibenden Gerätschaften, aber auch Schlafsäcke und Kleider überlassen. Von Adana fliegt der @fire-Trupp nach Istanbul. Dort bahnt die Polizei den Weg durch die Menge für die freiwilligen Helfer aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und aus Armenien. «Beim Metalldetektor standen die Beamten Spalier, während wir in Vollmontur durch den Bogen schritten, und applaudierten», erzählt Aeschbach bewegt.

Rosen von den Flight Attendants
Im Flieger werden sie von den Flight Attendants von Turkish Airlines mit roten Rosen empfangen. In Frankfurt hält der türkische Botschafter eine Rede, und wieder werden Rosen und ein Geschenk verteilt: ein Nazar-Amulett (Blaues Auge) und ein Kärtchen, auf dem «Thank you from Turkiye 2023» steht. «Die Dankbarkeit war gigantisch», so Aeschbach.

Auf der Frankfurter Feuerwache wird das offizielle Debriefing gemacht, eine Timeline erstellt – diese hilft, das Geschehene einzuordnen. Peer Daniel Aeschbach führt vor der Verabschiedung erneut Gespräche mit den Kollegen. Was war richtig schlimm, was gut? «Auch die stärksten Feuerwehrmänner haben erzählt und erzählt …», schildert Aeschbach. Anschliessend übernimmt die Nachsorgegruppe des Roten Kreuzes. Nach der Rückkehr kommen die grossen Gefühle, aber auch die Leere. Dank des frühzeitigen Peer-Einsatzes und vielen Gesprächen sei diesmal der Prozess kürzer, glaubt Aeschbach. Er freue sich, wenn er anderen helfen könne. Und er selbst? «Ich nehme die Situationen wahr, nehme Bilder im Kopf auf, damit ich sie irgendwann bewusst loslassen kann», verrät der erfahrene Helfer: «Und reden, reden, reden!» Auch dieses Interview sei ein wichtiger Teil der Verarbeitung für ihn, sagt er und verabschiedet sich im Wissen, dass ihn das Erlebte trotz allem noch lange begleiten wird: «Denn für die Menschen in der Türkei ist das alles noch lange nicht vorbei. Ich mache mir Sorgen um sie.»