Beim Bahnhof in Wettingen steht eine mächtige Linde. Der Baum ist rund 27 Meter hoch, hat einen Stamm mit rund einem Meter Durchmesser und ist zwischen 100 und 160 Jahre alt. Damit bleibt die alte Linde zwar hinter der Linde von Linn – mit ihren über 800 Jahren – zurück, doch bleibt sie einer der imposantesten Bäume im Wettinger Siedlungsgebiet. Geht es nach den Plänen der SBB und der Gemeinde, wird dieser Umstand die Linde allerdings nicht davor bewahren, im Rahmen des Grossbauprojekts «Stadtlaube», das in den nächsten Jahren das Bahnhofsareal in Wettingen transformieren soll, gefällt zu werden.
Natürliches Kleinod
Die Linde in Wettingen ist Teil eines kleinen Parks direkt im Anschluss an die Bahngleise. Die rund 1000 Quadratmeter umfassende Fläche hat der Mieter in einen blühenden Garten verwandelt, der auch anderen Erholungsuchenden offen steht. Ein Angebot, das in den vergangenen Jahren auch rege genutzt wurde. Neben der alten Linde finden sich dort Sitzbänke, ein kleiner Teich sowie Grünflächen, auf denen Skulpturen verteilt sind. «Für Menschen, Tiere, Insekten und Pflanzen ist das ein gewinnbringender Ort», so Alt-Einwohnerrätin Marie-Louise Reinert. Sie sieht eine Diskrepanz zwischen dem Imageslogan der «Gartenstadt» Wettingen und deren Umgang mit wertvollen Bäumen wie der alten Linde am Bahnhof. Zudem ist der kleine Park einer der wenigen Orte in Wettingen, die sich auch an heissen Tagen nicht über Gebühr aufheizen und wo sich die Bevölkerung im Sommer etwas Kühlung verschaffen kann.
Engagement der «Sperber»
Aus diesem Grund hat sich die Gruppe «Sperber» auch dem Anliegen angenommen. Neben Reinert zählen der Landschaftsarchitekt Peter Paul Stöckli, der ETH-Architekt William Steinmann und der Künstler Cesco Peter zur Gruppe, die sich seit 2021 über Aspekte der Entwicklung in Wettingen austauscht und dabei mitwirkt. Dieses Jahr stiessen zudem die Raumplanerin Heidi Haag und die Geschäftsführerin Carmen Sidler zu der Gruppe. Wie alle «Sperber», stammen auch sie aus Wettingen. «Ich möchte festhalten, dass ich es sehr begrüsse, dass die Gemeinde alle Eigentümer des Bahnhofsareals an einen Tisch brachte, damit das Gebiet nun weiterentwickelt werden kann», hält Steinmann fest. Doch dass die Linde dem Projekt weichen soll, hält er für einen «entscheidenden Fehler». Schliesslich wäre die Überbauung «Stadtlaube» seiner Einschätzung nach mit lediglich geringen Änderungen und mit vergleichbarem Umfang auch realisierbar, ohne der alten Linde und dem dazugehörigen Park den Garaus zu machen und diese durch neue Grünflächen zu ersetzen.
Bei der Gemeinde hingegen ist man der Meinung, dass es keinen Sinn ergebe, Freiflächen zu erhalten, die im Zielkonflikt mit der geplanten Innenverdichtung stehen. Und auch die SBB reagierten abschlägig auf das Anliegen der «Sperber», da die betreffende Fläche für das Neubauprojekt benötigt werde. Da der dem Projekt zugrunde liegende Gestaltungsplan bereits rechtskräftig ist, haben die «Sperber» keine rechtlichen Handhabe zur Rettung der Linde. Soll der alte Baum gerettet werden, ist ein Entgegenkommen der SBB zwingend. Die «Sperber» versprechen sich deshalb viel vom geplanten Treffen mit Repräsentanten der SBB – von ihrer wohl letzten Chance, die alte Linde beim Bahnhof doch noch zu retten.