Dem Schrecken ins Auge blicken

Ein Gespräch mit Festivalleiter Michel Frutig über die Vielseitigkeit des Horrorfilms und das cineastische Interesse des Publikums.
Michel Frutig vor dem Filmplakat mit dem ikonischen Brugggore-Auge. (Bild: cd)

Michel Frutig, seit Freitag ist Brugg mit den Brugggore-Fahnen beflaggt. Was geht einem als Festivalleiter dabei durch den Kopf?
Dass innert dreier Jahre aus einem nicht ganz ernst gemeinten Hirn­gespinst ein echtes Festival wurde. Das macht einen stolz, ist aber auch beängstigend. Spätestens jetzt haben es wohl die meisten Bruggerinnen und Brugger gesehen. Es gibt also kein Zurück mehr – nur noch die Flucht nach vorn.

Das dritte Brugggore steht unter dem Titel «Fantastic Horror and Beyond». Welcher Teil des Programms ist mit Beyond, also «darüber hinaus», gemeint?
Dieses Jahr zeigen wir über vierzig Filme, davon dreiundzwanzig Premieren. Es ist uns gelungen, Filme in die Schweiz zu holen, die das Publikum sonst nirgends jemals auf Grossleinwand sehen wird, weil sie keine Kinoauswertung erhalten. Darunter sind echte Neuentdeckungen und Erstlingswerke von jungen Regisseurinnen und Regisseuren, die Filme voller hinreissender Special Effects und skurriler Details gemacht haben. Des Weiteren zeigen wir in der grossen Retrospektive Klassiker und Film­perlen aus hundert Jahren Kino­geschichte. Unter diesen Herzens- und Wunschfilmen sind persönliche Lieblinge, die ich selbst noch nie auf Kinoleinwand sehen konnte. In der Official Competition für den Publikumspreis sind wieder fünf völlig unterschiedliche Filme ausgewählt worden. Vom düsteren Psychodrama über Camping-Slasher-Spass bis zu österreichischem Gothic-Horror.

Wie und wo sucht und findet die Jury diese Filme?
Wir haben wieder viele Einsendungen aus aller Welt erhalten. In mehreren Hundert Stunden haben wir uns alles angeschaut. Aus Qualitätsgründen mussten wir einen Grossteil davon ablehnen. Andere Filme suchen wir aktiv. Wir verfolgen mit, was gerade produziert wird, und versenden entsprechende Anfragen. Und wir beobachten international, was andere Festivals zeigen.

Ist das Nifff (Neuchâtel International Fantastic Film Festival) eine Konkurrenz für das Brugggore?
Nein. Das Nifff fing zwar selbst einmal als Horrorfilmfestival an, es ist unterdessen jedoch sehr breit auf Fantasy und die daran angelehnten Genres ausgerichtet. Ausserdem findet es erst Ende Juni statt. Daneben sind der Festivalstandort und die Infrastruktur matchentscheidend. Brugg hat das Zeug, eine Filmstadt zu sein.

Das Nifff gehört unterdessen zu den fünf grössten Festivals der Schweiz mit 50 000 Gästen. Welches Potenzial hat das Brugggore?
Mein Ziel ist klar die Weiterentwicklung. Das bedeutet, neue Angebote zu schaffen und die grosse und kleine Steuerung zu übernehmen, wohin es mit dem Festival gehen soll. Wir haben eindeutiges Wachstumspotenzial. Das zeigt sich nur schon daran, wie massiv das Programm erweitert werden konnte. Wir sind glücklich, die Festivalfilme dieses Jahr wieder im Cinema Excelsior und zum ersten Mal im Kino Odeon zeigen zu können.

Das Brugggore ist das einzige reine Horrorfilmfestival der Schweiz. Wird es in der Filmfestivallandschaft wahrgenommen?
Am Zürich Film Festival und in Locarno wurden Horrorfilme gezeigt, und ich wünschte, ich könnte sagen, es liege am Brugggore. Aber dafür sind wir noch zu klein. Die mediale Wahrnehmung ist eindeutig gestiegen, ich merke das an den vielen Anfragen, die uns erreichen. Das ist sehr motivierend.

Erstaunt es jemanden, der ein Horrorfilmfestival gegründet hat, dass sich ein Publikum oder die Öffentlichkeit für Horrorfilme interessiert?
Anfänglich dachte ich, dass ein Horrorfilmfestival für mehr Aufruhr und Ablehnung sorgen würde. Es hat mich erstaunt, wie positiv und ohne Vorurteile das Vorhaben aufgenommen und darüber berichtet wurde. Ich hatte, offen gestanden, mit mehr Kontroverse gerechnet. Unser Vorhaben stiess von Anfang an auf erfreulich positive Resonanz, und wir haben grosse Unterstützung von allen Seiten und aus der Region erfahren, ebenso von der Presse, den Kinobetreibern und der Stadt Brugg.

Nicht alle waren begeistert. Im Einwohnerrat sorgte der Antrag der EVP, die Kultursubvention fürs Brugggore vollständig zu streichen, für Diskussionen. Ist das nachvollziehbar?
Es ist nachvollziehbar und schön zu sehen, dass über den Umgang mit Kultursubventionen diskutiert wird. Am Ende hat die kulturelle Vielfalt zum Glück gesiegt. Aber natürlich ist mir bewusst, dass wir in unserem Programm Filme zeigen, die gezielt provozieren und einige Menschen schockieren würden. Meiner Ansicht nach sind in Kunst und Kultur ebenfalls kontroverse Dialoge wichtig. Horrorfilme sind manchmal unbequem, verarbeiten aber auch traumatische Ereignisse der Geschichte oder machen auf Missstände aufmerksam. Menschen, die mit unserem Vorhaben nichts anfangen können, empfehle ich, sich bei Gelegenheit mit den Festivalgästen zu unterhalten. Filmfans sind sehr nette Menschen – selbst wenn sie keinen alltäglichen Filmgeschmack haben.

Filmfestivals gelten als Defizitgeschäft. Wie macht das der Verein Brugggore?
Bisher haben wir uns bewusst auf die Kulturförderung und nicht auf Sponsoren konzentriert. Mir ist es wichtig, dass wir das Festival in seiner Anfangsphase nach unseren Wünschen gestalten können. Grosse Sponsoren neigen dazu, jedes Detail kontrollieren zu wollen. Das soll sich aber noch ändern. Wenn wir gross genug sind, lassen sich bestimmt mutige Sponsoren finden, die ein Horrorfilmfestival unterstützen.

Besucht hauptsächlich eine eingeschworene Fangemeinschaft das Brugggore-Filmfestival?
Nebst den jungen Horrorfilmfreaks besteht der Grossteil des Publikums aus leidenschaftlichen Filmfans, waschechten Cineasten, Liebhaberinnen und Liebhabern des gepflegten Gruselns und Filminteressierten. Es ist ein Publikum, wie man es auch am Nifff, in Zürich oder Locarno am Filmfestival antrifft – Leute, die sich für Filme begeistern und die es schätzen, dass wir viel Zeit investieren, um eine sorgfältige Auswahl zu treffen und ein handverlesenes Programm zusammenzustellen, das ausserhalb des Mainstreams liegt. Das Publikum merkt und weiss sehr genau, was gute Filme sind.

Am Filmfestival wird der Film «Die 120 Tage von Sodom» (1975) von Pier Paolo Pasolini gezeigt. Er gilt aufgrund seiner offenen Darstellung von Vergewaltigung, Folter und Mord als einer der umstrittensten Werke der Filmgeschichte. Gehört ein derart provokativer Film an ein Festival?
Wir zeigen den Film aufgrund seiner inhaltlichen Radikalität. Der Film war ein Skandal, wurde immer wieder beschlagnahmt und verboten. Das Besondere an dem Film ist, dass er kein Horrorfilm ist und auch nie als solcher vermarktet wurde. Trotzdem kann man ihn nur in einem Horrorkontext zeigen. Er ist fürchterlich in seinem Blick auf die Perversionen des faschistischen Italiens und unübersehbar eine Kritik daran, was den Menschen angetan wurde.

Es kommt heute noch und wieder vor, dass Filme zensuriert und verboten werden, dabei ist Gewalt doch überall zugänglich. Ist der Horrorfilm eine letzte Bastion?
Es ist nicht so, dass das Horrorgenre davor geschützt ist. Ein Grossteil der Filme, die in den 80er-Jahren in den Staaten produziert wurden, sind nie ungeschnitten erschienen und wurden von der Zensur schon verstümmelt, bevor sie überhaupt in die Kinos gelangten. Die Zensur greift bis heute ein.

1922 schuf Friedrich Wilhelm Murnau mit «Nosferatu – eine Symphonie des Grauens» eine expressio­nistische Adaption des Dracula-­Romans. Er gilt als Vorläufer des Horrorfilms. Der Stummfilm wird mit einer Livevertonung am Brugggore gezeigt. Spricht dieser spezielle Film ein breites Publikum an?
Der Film ist einer unserer Kinoperlen aus der Retrospektive, wir zeigen ihn im Odeon. Ein Klassiker, untermalt von den gespenstischen, atmosphärischen und zum Teil fiesen Klängen, die ein Akkordeon erzeugen kann und welche die Personen klanglich charakterisiert. Diesen Film werde ich keinesfalls verpassen. Er dürfte ganz viele Fans begeistern.

Im Programm finden sich Filme, die man nicht direkt mit Horror in Verbindung bringt. In «Razzennest» sieht man offenbar gar nichts Horrormässiges.
In diesem Film wird der Audiokommentar zu einem Dokumentarfilm aufgenommen. Man sieht den Film, der aus Landschaftsaufnahmen besteht. Dazu hört man den Regisseur aus dem Off, der mit einer jungen Bloggerin über sein visionäres Werk redet. Er ist ein arroganter, selbstgefälliger Kerl, die Stimmung kippt schnell ins Beklemmende, der Horror entfaltet sich nur auf der Tonspur. Das Spektrum im Horrorgenre ist sehr breit. Es gibt Popcornkinofilme, Blockbuster, Kultsplatterfilme und rabenschwarze Komödien wie «Delicatessen», in dem jedes Bild ein wahres Gemälde ist.

Das diesjährige Festivalprogramm wird zum ersten Mal parallel in zwei Kinos präsentiert. Es gibt Überschneidungen, das Publikum wird nicht alle Filme sehen können.
Das Programm ist so umfangreich, dass wir gezwungen waren, durchgehend alles doppelt zu belegen. Im Brugggore-Organisationskomitee sind eben lauter Horror- und Filmfans, die anderen Filmfans einige unvergessliche Filmerlebnisse bieten wollen. Letztlich wollen wir einfach unseren Spass an Filmen mit kleinen putzigen und grossen eindrücklichen Effekten mit anderen teilen.

www.brugggore.ch