Das Kunstrad ist auch ein Turngerät

Seit rund zwölf Jahren sitzen Luana und Vanessa Rüede auf dem Kunstrad. Am Samstag zeigten sie in der Turnhalle Tannenweg ihr Können.
Zwei Schwestern, eine Leidenschaft. Luana und Vanessa Rüede mit ihrem Hightech-«Turngerät». (Bild: mpm)

Scheinbar mühelos rollt Vanessa Rüede auf dem Rad im Kreis – allerdings rückwärts und stehend auf dem Lenker. «Ich bevorzuge die akrobatischen Übungen wie den Kehrlenkerstand», erklärt die 24-Jährige, die hauptberuflich als Social-Media- und Marketingspezialistin arbeitet. Ihre Schwester Luana Rüede, 19 Jahre alt und Kauffrau bei einer Gemeinde, mag eher die «Steiger»-Figuren, bei welchen ein Rad in der Luft bleibt. Was bei Luana und Vanessa Rüede so elegant und mühelos aussieht, ist in Wirklichkeit das Ergebnis jahrelangen, harten Trainings. Mehrmals pro Woche sind die Schwestern aus Würenlingen in der Halle anzutreffen, zahlreiche Stürze, blaue Flecken und erfolglose Versuche säumen den Weg zum Erfolg. Vanessa und Luana sind seit zwölf beziehungsweise elf Jahren begeistert dabei und inzwischen in der Elite.

Aus allen Landesteilen
Beide Sportlerinnen sind Mitglied der Abteilung Kunstradgruppe Würenlingen des Radfahrerbundes Brugg (RB). Sie hatten am vergangenen Samstag zusammen mit weiteren Teamkollegen und -kolleginnen die Möglichkeit, ihr Können an der Regionalmeisterschaft Interregio unter Beweis zu stellen. Zehn Kunstradvereine waren vertreten. Die 6- bis 24-jährigen Athleten und Athletinnen kamen aus Luzern, Altdorf, Amriswil, Schaffhausen, Baar, Uzwil, Löhningen, Sirnach, Würenlingen und Windisch-Brugg und zeigten Übungen in Einer-, Zweier-, Vierer- und Sechserformationen.

Eine Zeit lang trainierten Luana und Vanessa Rüede in der Zweierformation, bei der einerseits synchron auf zwei Rädern und andererseits zusammen auf einem Rad gefahren wird. In dieser Disziplin errangen sie den dritten Platz der Schweizer Meisterschaft. «Beide haben wir dann aber beschlossen, in Zukunft nur in der Einerdisziplin zu fahren», hält Luana fest, «uns fehlte die Zeit, die nötig wäre, um in beiden Disziplinen richtig zu trainieren. Und da wir schon immer viel mehr in die Einerdisziplin investiert haben, fokussieren wir uns weiter darauf.»

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Vanessa Rüede im Lenkersitzsteiger rückwärts und im Schulterstand. (Bilder: mpm)

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Kür dauert fünf Minuten
Für den Wettkampf haben die Schwestern ihre eigene Kür erstellt, die fünf Minuten dauert und bei den Kampfrichtern im Vorfeld eingereicht wird. «Während dieser Zeit müssen wir dreissig Übungen gemäss einer von uns gewählten Abfolge zeigen», erläutert Vanessa. Diese besteht aus statischen Ständen, Drehungen, turnerischen Übungen, Übergangselementen sowie dem sogenannten Steiger, bei dem auf einem Rad gefahren wird. Ein umfassendes Reglement beschreibt die Übungen im Detail. Wer sie während der Kür korrekt ausführt, erhält die volle Punktzahl – bei Fehlern, Unsicherheiten wie Wacklern oder Bodenkontakt werden Punkte abgezogen. «Fünf Minuten sind nicht lang für alle dreissig Übungen», ergänzt Luana, «vor allem wenn man runterfällt und damit Zeit – und manchmal auch die Nerven – verliert.» Eine Musikbegleitung ist nicht notwendig, aber viele fahren trotzdem mit Musik. «Das hilft bei der Konzentration», sagt Vanessa. «Aber die Musik muss zu mir passen.» So habe sie beispielsweise die Musik ihrer Schwester Luana ganz nervös gemacht, gibt sie lachend zu.

Strenge Vorschriften
Die Übungen sehen für den Laien sehr gefährlich aus, und so elegant das Kunstrad wirkt, es ist ein robustes Turngerät. Das Reglement liefert genaue Vorgaben bezüglich Länge der Dornen, des Sattels, des Lenkers und der Kurbel, und es gibt verschiedene Hersteller, die sich auf Kunsträder spezialisiert haben. Das Kunstrad hat eine starre 1:1-Übersetzung zum Vorwärts- und Rückwärtsfahren und keine Bremsen. Die Reifen haben einen enormen Druck von 12 bis 16 bar, das ist rund das Dreifache des Reifendrucks bei normalen City-­Bikes. 

«Das Faszinierende am Kunstradfahren ist die Verbindung von zwei Sportarten», findet Vanessa Rüede. «Es ist nicht nur Kunstturnen und nicht nur Radfahren, sondern eine Kombination.» Zu Beginn könne man sich kaum vorstellen, dass man jemals eine Kür schaffe. «Aber wenn es dann gelingt, alles korrekt zu zeigen, ist das ein tolles Gefühl», ergänzt die Sportlerin strahlend. Das gelang ihnen am Samstag in der Turnhalle Tannenweg: Die Schwestern konnten hervorragende Leistungen mit teilweise neu eingebauten Übungen ruhig und sicher abrufen und mussten nur wenige Punktabzüge hinnehmen.