Grosse Stricke hat er nie zerrissen. Meist blieb es bei ebensolchen, bei Floskeln: «grosse Stricke zerreissen», «das Fuder überladen» oder – ein Klassiker – «das Ende des Tunnels». Ruedi Rüdi, ein Mitte-Politiker im Mittelland, predigte bei jeder Rede «Augenmass», um stets «das richtige Mass» zu halten. Da widersprach keiner, nicht in der Schweiz. Das war Rüdis bewährte Mitte-Rhetorik (und die Tünche fürs eigene Mittelmass).
Ruedi Rüdi sammelte Floskeln wie andere Tinplate-Autos oder Tim-und-Struppi-Figuren. Am PC erstellte er Listen von wasserdichten Allgemeinplätzen. Die konnte ihm niemand im Mund umdrehen. Und gerieten die Phrasen (Rüdi nannte sie «Standardklötze») mal in die Presse, waren sie unangreifbar, gingen glatt durch, sogar «aus dem Zusammenhang gerissen». Leider fand die Presse «Standardklötze» selten berauschend, ausserdem pflegten die ihre eigenen Floskeln.
Nun hörte Ruedi Rüdi von der Revolution. Die ganze Art zu sprechen, werde völlig umgekrempelt. Alle Reden, neunzig Prozent aller Texte erledige ab sofort der Roboter, der ChatGPT. Rüdi «schwante nichts Gutes», das war der Anfang des Tunnels. Aber es kam auch Freude auf, Schadenfreude. Die Pressefritzen, die Ruedi Rüdi ständig ignoriert hatten, würden nun ersetzt durch einen Maschinenzeilenschinder. Ein Kinderspiel, dachte Rüdi bitterfroh, das Einheitsgeschwätz der Medien zu kopieren, honorarfrei und uneitel, 24/7, in horrendem Tempo.
Doch im Verlauf der Überlegungen kam ebenfalls für Rüdi, wie er gern sagte, «das Ende der Fahnenstange». Er selbst, alle vier Jahre aus dem Schaum der Mitte neu geborener Politiker, stünde «am Ende des Lateins». Nicht nur die Phrasendrescher rundum würden bald Däumchen drehen. Sogar Rüdi musste um sein «Kerngeschäft zittern», als Meister aller Allgemeinplätze landauf, landab an jeder Hundsverlochete «seinen Beitrag zu leisten». Statt seiner könnten künftig Organisatoren politischer Podien einfach eine quakende Glühbirne aufs Rednerpult stellen …
Muss ich mich, dachte Ruedi Rüdi, «in dieser immer schnelllebigeren Zeit» spät noch zu einem eigenen Gedanken und neuen Wort quälen?
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