Annika Büsing: Nordstadt

In der Rubrik «Buchtipp» erzählen Mitarbeitende der Gemeinde- und Schulbibliothek Windisch von ihren Leseerfahrungen – und sorgen so für Inspiration.

Im Grunde ist der Erstlingsroman von Annika Büsing eine Liebesgeschichte. Aber keine typische. Denn die Protagonisten Nene und Boris sind beide bereits Mitte zwanzig vom Leben gezeichnet: Die Icherzählerin Nene ist in einem zerrütteten Zuhause unter widrigen Umständen aufgewachsen, und Boris ist als Kleinkind an Kinderlähmung erkrankt und kämpft seither mit körperlichen Einschränkungen. Während bei Nene die Widrigkeiten des Lebens eine Art Kampfhaltung ausgelöst haben, fehlt Boris vielfach der Antrieb und der Mut zum Leben. Die aufkeimende Freundschaft zwischen der Bademeisterin und dem Arbeitslosen ist ein Auf und Ab der Gefühle, ein zartes Pflänzchen, dem der raue Wind des harten Lebensumfelds entgegenbläst. Nenes Gedanken sind sprunghaft und wild, kompromisslos und manchmal repetitiv. Ihre Direktheit wirkt manchmal grob, ja derb, aber immer nachvollziehbar. Wo die Dinge beim Namen genannt werden, geht es darum, zu sagen, wie sie es empfindet. Voyeurismus, den man beim Lesen von Szenen mit (sexueller) Gewalt empfinden könnte, kommt hier nicht auf, da die Autorin es schafft, Nene authentisch und doch distanziert und kühl erzählen zu lassen. Eine klare Leseempfehlung meinerseits. 

Nordstadt
Roman von Annika Büsing
Steidl Pocket, 2022