Christian Keller, was ist für Sie ein guter Hausarzt?
Keller: Das müssen die Patientinnen und Patienten beantworten!
Edele: Ein guter Hausarzt hat einen ganzheitlichen Ansatz. Er begleitet die Patienten über Jahre und kennt nicht nur ihre Krankengeschichten. Früher bekam er bei Hausbesuchen einen Eindruck von ihrer Wohn- und Lebenssituation. Das ist heute zeitlich nicht mehr möglich.
Keller: Den letzten Hausbesuch habe ich kürzlich bei einem jahrzehntelangen Patienten auf Wunsch der Angehörigen gemacht. Früher war das ein normaler Service des Hausarztes, da die Krankenhäuser noch keine Ambulatorien besassen. Also mussten die Hausärzte jeden Tag
24 Stunden für Notfälle erreichbar sein und ausrücken. Die jungen Hausarztkollegen von heute sind dazu nicht mehr bereit. Sie legen mehr Wert auf eine gute Work-Life-Balance.
Weshalb sind Sie Hausarzt geworden?
Keller: Die Vielseitigkeit der allgemeinen inneren Medizin interessierte mich. Früher gipste man in der Praxis noch gebrochene Gliedmassen, machte Wundversorgungen und Rundumbetreuungen ganzer Familien. Ein leuchtendes Vorbild war mir mein Schwiegervater Peter Flückiger, der Chirurg und nebenbei Hausarzt mit Leib und Seele und rund um die Uhr für seine Patienten da war.
Da Ihre Frau ebenfalls Ärztin ist, brachte sie für Ihr grosses Pensum sicher Verständnis auf.
Keller: Ja, sie war sehr engagiert, kümmerte sich um die Familie, arbeitete als Frauenärztin in unserer Praxis und leitete gegen 5000 Geburten, zuerst im Brugger Spital und nach dessen Schliessung in Leuggern. Manchmal mussten wir sogar gleichzeitig ausrücken.
Wie kommt es, dass Sie, Wolfgang Edele, als Hausarzt und Kardiologe praktizieren?
Edele: Ich absolvierte meinen Zivildienst in einer internistisch geführten Privatklinik am Starnberger See. Das grosse Spektrum reizte mich, da ein Internist zu jener Zeit noch Magen-Darm-Spiegelungen, Herzkatheteruntersuchungen, Bauchspiegelungen und Gallenblasendarstellungen machte. Meine erste Stelle hatte ich in einer internistischen Klinik in München mit Schwerpunkt Kardiologie. Für eine allfällige Tätigkeit in Afrika wollte ich medizinisch so breit wie möglich ausgebildet sein.
Haben Sie dort praktiziert?
Edele: Ja, ich arbeitete zwei Jahre auf einem Krankenhausschiff, das entlang der westafrikanischen Küste fuhr. Wir behandelten und operierten, machten Malariatherapie, Onkologie und vieles mehr. Wir waren zudem auf dem Festland tätig. Liberia hatte nach dem jahrelangen Bürgerkrieg keine einheimischen Ärzte mehr. Dort sahen und erlebten wir viel, das wehtat.
Herrscht auch hier in der Region Hausarztmangel?
Keller: Da viele junge Kollegen zur Erhöhung ihrer Lebensqualität Teilpensen in Gemeinschaftspraxen vorziehen, existiert er tatsächlich. Die Schweiz bildet zu wenig Nachwuchs aus, weil es billiger ist, Ärzte im Ausland abzuwerben. Die Zulassungsbeschränkungen fürs Medizinstudium an den Universitäten und die fehlenden Ausbildungsplätze in den Kliniken sind eine Folge der Sparmassnahmen.
Wie haben Sie beide sich gefunden?
Edele: Ich wohnte schon sieben Jahre in Windisch und arbeitete dort in einer Gemeinschaftspraxis, als ich Christian Keller zufällig kennenlernte und erfuhr, dass es schwierig sei, einen geeigneten Nachfolger für seine Hausarztpraxis zu finden. Die Chemie zwischen uns war sofort so gut, dass ich die Praxis 2021 übernahm, er aber noch einen Tag pro Woche weiter praktiziert. Mit Dr. Jining Sun ergänzt eine Kollegin das Team. Mein Pensum beträgt 80 Prozent. Leider brauche ich jedoch die Hälfte des freien Mittwochs für die Überhand nehmende Büroarbeit.
Weshalb hat diese zugenommen?
Keller: Die politischen Entscheidungsträger im Gesundheitswesen kennen den beruflichen Alltag oft viel zu wenig. Man will uns alles Mögliche vorschreiben und kontrollieren, als ob wir böse Absichten verfolgen würden.
Ist es so, dass Pharmaindustrie und Spezialärzte immer mehr verdienen, während bei den Hausärzten gespart wird?
Keller: In der Tat haben wir Hausärzte seit den 1990er-Jahren keinen Teuerungsausgleich erfahren, obwohl Löhne, Medikamente, Materialbeschaffung und Energiekosten laufend gestiegen sind.
Helfen Gemeinschaftspraxen, teure Geräte schneller zu amortisieren und Kosten zu sparen?
Keller: Ich bin kein Freund von grossen Praxen, da sie eine höhere Gefahr für Reibungsverluste innerhalb der Praxis mit sich bringen. Bei uns ist alles überschaubar. Man nutzt gemeinsam die vorhandene Infrastruktur, und die Amortisation verteilt sich auf verschiedene Portemonnaies. Viel lässt sich jedoch nicht sparen, da immer wieder neue Investitionen getätigt werden müssen. 2009 wurde die IT umgestellt, was viele Vorteile mit sich brachte, aber auch Risiken im Hinblick auf die Wahrung des Patientengeheimnisses. Man ist auf die Wartung einer Softwarefirma angewiesen, und diese muss die Daten auswärts speichern. Was ist, wenn sie gehackt und wir erpresst werden? Deshalb sehe ich das elektronische Patientendossier kritisch.
Woher rühren Ihre ethischen Grundsätze?
Keller: Einerseits wurden sie mir in der Familie vorgelebt, andererseits ist die Rolle der Lehrer nicht zu unterschätzen. So war es nie mein vordergründiges Ziel, in kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen.
Edele: Es hat mit dem eigenen Weltbild zu tun. Sicher möchte man sich als junger Mensch etwas aufbauen, doch letztlich ist die Zufriedenheit entscheidend. Ich mache meine Arbeit aus Berufung und freue mich, meine Familie gut versorgen zu können. Dabei geniesse ich es, in der Sprechstunde gelegentlich nicht Medizinisches kurz anzusprechen. Das ist für mich ein ganzheitlicher Ansatz. Überschreitet man aber das Zeitlimit von zwanzig Minuten pro Patient, bekommt man Rückfragen, weshalb man länger als die Kollegen brauche. Derartige Kontrollen und Normierungen gab es früher nicht. Da ging der Hausarzt einfach seinen Weg.
Keller: Im Vergleich mit der Situation vor dreissig Jahren befinden wir uns heute in einem eng gestrickten Korsett. Wir sind immer noch Kleinunternehmer, die Verantwortung für die
Mitarbeiterinnen haben und für alle ein angemessenes Einkommen generieren müssen. Was sich massiv verändert hat, sind die Anspruchshaltung der Patienten und die Haftungsfrage. Es gibt mittlerweile auch in der Schweiz Schadensanwälte. Kein Mensch ist fehlerfrei,
keiner macht absichtlich Fehler. Gott sei Dank ist mir nichts Gravierendes passiert – Glück gehabt! Zur Absicherung muss ich trotzdem eine Haftpflichtversicherung abschliessen, umso mehr als Ärzte zwanzig Jahre für ihre Tätigkeit haftbar sind.
Edele: Man kann sich in der Medizin jedoch nicht gegen alles absichern, sonst würde das untragbare Kosten verursachen. Wir unterliegen einer Dokumentationspflicht, was sehr sinnvoll ist. Die Verlaufsbeobachtung zeigt dann, ob man die richtige Entscheidung getroffen hat.
Wie reagieren Sie auf die Erwartung vieler Patienten und Patientinnen, dass Sie sie im Handumdrehen wieder gesund machen?
Edele: Früher war das Grundvertrauen in den Hausarzt grösser. Heute herrscht ein mechanistisches Weltbild vor, das suggeriert, man müsse nur an der richtigen Schraube drehen und dann passierten Dinge nicht mehr. Das ist jenseits der Realität. Wie unberechenbar das Leben ist, hat uns Corona eindrücklich vor Augen geführt.
Wie viele Menschen kommen mit Stressbeschwerden in Ihre Praxis?
Keller: Die meisten Patienten leben in Familien. Die Angehörigen üben oft unnötigen Druck auf das kranke Mitglied aus und säen ebenso Unsicherheit wie Dr. Google. Dann gilt es, sich im Guten damit auseinanderzusetzen und zu überlegen, was sinnvoll ist. Welches Risiko ist tragbar, und welche therapeutischen Chancen haben wir, wenn wir etwas herausfinden?
Kommen junge Menschen besser mit dem Tempo unserer Zeit zurecht als die älteren Generationen?
Edele: Die junge Generation kennt kein anderes Tempo. Trotzdem kann es sein, dass sie eines Tages mit der hohen Geschwindigkeit überfordert ist. Immerhin werden die meisten Menschen mit zunehmendem Alter gelassener. Manche fürchten jedoch, die Kontrolle zu verlieren. Je mehr jemand im Leben alles im Griff hatte, umso schwerer tut er sich, wenn dem nicht mehr so ist.
Wo könnte mit Prävention besonders viel erreicht werden?
Edele: Das fängt bei der Ernährung an. Der Darm ist ein Organ, das unsere Gesundheit sehr stark beeinflusst.
Keller: Der Wohlstand wirft uns Knüppel zwischen die Beine, wenn es um gesundes Verhalten geht. Der menschliche Körper braucht Bewegung. Wenn ich morgens mit dem Velo in die Praxis fahre, sehe ich Heerscharen von Schülern, die auf den Bus warten, nur um einige Hundert Meter zur Schule zu fahren. Das Überangebot an Süssigkeiten verleitet zu übermässigem Konsum und führt zu Übergewicht.
Sollte das Bewusstsein für eine gesunde Ernährung vermehrt in der Schule geweckt werden?
Keller: Ich frage mich, ob das wirklich Aufgabe der Lehrer ist. Sie stehen ohnehin schon unter Druck. Meiner Meinung nach sollten es die Eltern vorleben, doch oft nehmen sich die Eltern selbst kaum Zeit für ein gesundes Frühstück. Schnell wird ein Glas Eistee getrunken und ein Weggli mit Konfitüre oder Nutella gegessen – und ab auf den Bus. Um 9 Uhr hat man erneut Hunger und greift wieder zu einem süssen Snack. Zeit für Bewegung scheint verlorene Zeit zu sein …
Was halten Sie von Alternativen zu einem Termin in der Praxis wie Medgate oder von der Notfall-Hotline von Aerztefon?
Edele: Für 08/15-Erkrankungen können sie sinnvoll sein. Auch bei Hautproblemen lässt sich viel über Telemedizin machen. Grundsätzlich ist jedoch der persönliche Eindruck wichtig, den der Arzt vom Patienten bekommt, wenn dieser vor ihm steht. Die Pandemie hat uns aber gezeigt, dass man nicht wegen jeder Kleinigkeit sofort zum Arzt gehen muss.
Christian Keller, Sie sind ein begeisterter Biker. Arbeiten Sie mit 72 noch, um sich immer das neueste Bike leisten zu können?
Keller: Nein, ich bin auch in dieser Hinsicht etwas altmodisch. Meine Maxime lautet «conservare», also erhalten. Ich habe ein gutes Mountainbike und versuche, dieses möglichst lang funktionsfähig zu halten. Ich habe damit im letzten Jahr 50 000 Höhenmeter gemacht – allein in der Umgebung von Brugg! (Lacht.)
Wenn Sie das wissen, haben Sie wenigstens einen Fitnesstracker …
Mein Aufzeichnungsgerät ist alt, doch ich kenne mittlerweile die Steigungen der Routen. Da ich in den Sprechstunden gern ein paar private Sätze mit langjährigen Patienten spreche und dabei Tipps gebe, hat mir kürzlich einer von ihnen erzählt, dass er die Strecke zwischen Veltheim und der Gisliflue die «Dr.-Keller-Route» nennt. (Lacht.)
Wolgang Edele, wie gefällt es Ihnen in unserer Region?
Edele: Ich bin in der Nähe von Tübingen – also ebenfalls im alemannischen Sprachraum – aufgewachsen und habe danach 29 Jahre in München gelebt. In Windisch haben wir gemerkt, dass uns die Schweizer Mentalität näher ist als die bayrische, und lassen uns einbürgern, da wir hier schon Wurzeln geschlagen haben.
Und Sie, Christian Keller, stammen Sie aus Brugg?
Keller: Nein, aus Windisch. Mein Vater war sogar Ehrenbürger von Windisch, da er sich Jahrzehnte um die Gemeinde verdient gemacht hatte. Er leitete als Landwirt den Gutsbetrieb in Königsfelden. Ich habe 23 Jahre Königsfelden stationär hinter mir, bevor ich den Ausbruch schaffte! (Lacht.) Ich könnte auch sagen, ich lebte im Kloster, aber nicht wie ein Mönch …