«Es gibt kein Richtig oder Falsch»

Neustart für den Dirigenten Marc Urech: Künftig wird Roman Blum das Siggenthaler Jugendorchester leiten, in dem er einst selbst gespielt hat.
Hat das Siggenthaler Jugendorchester geprägt: Marc Urech. (Bild: zVg)

Darf sie das, fragt sich die Besucherin, denn angemeldet ist sie nicht. Leise öffnet sie die Tür zur Musikwerkstatt Brugg und wird sogleich von strahlender Musik erfasst. Einige Tritte geht es hoch, dann hat die Besucherin das Siggenthaler Jugendorchester (SJO) und Marc Urech vor sich. Der Dirigent wippt mit den Füssen, was seinen Mozart-Zopf ebenfalls wippen lässt. «O läck du mir am Tschöpli», denkt die Besucherin nicht nur in diesem Moment, sondern auch später, als sie Proben und Konzerte des singulären Ensembles besucht.

Die Persönlichkeit fördern
1979 von Walter Blum gegründet, wird der zuerst im Siggenthal heimische, zwischen Schul- und Profiorchester stehende Klangkörper seit 2001 vom Windischer Klarinettisten, Dirigenten und Leiter der Musikwerkstatt Brugg, Marc Urech, geleitet und zu neuen Höhen geführt. Das Erfolgsrezept? «Wer hier spielt, lernt nicht nur anspruchsvolle Musik kennen, sondern ebenso, Verantwortung zu übernehmen – und zwar im Konzert, in den wöchentlichen Freitagsproben in der Musikwerkstatt und in der Lagerwoche in Flüeli-Ranft. «Beim SJO», unterstreicht Marc Urech, «gibt es kein Richtig oder Falsch, wir alle suchen gemeinsam nach Lösungen.» Und: «Die 50 Jugendlichen im Alter von 12 bis 26 Jahren müssen sich spüren können. Selbst mit den natürlichen Unfertigkeiten dürfen sie sich bei uns wohlfühlen. Im SJO wird das Technische gefördert, aber genauso stark die Persönlichkeit. Wir erarbeiten grosse sinfonische Werke, die zum gemeinsamen Erlebnis werden. Es ist wunderbar und inspirierend, wenn uns in Solowerken grossartige Solistinnen und Solisten begegnen, die bereits die Weltbühnen bespielen. Ebenso wertvoll und berührend sind die Programme, in denen eigene Orchestermitglieder solistisch mit dem SJO auftreten.»

«Ich bin auch Jugendarbeiter»
Marc Urech weiss, wie verletzlich junge Menschen im erwähnten Alter sind: «Deshalb bin ich nicht nur Dirigent, sondern überdies Jugendarbeiter und so etwas wie ein Seelsorger. Ohne die wertschätzende und tatkräftige Unterstützung meiner eigenen Familie hätte ich diese verantwortungsvolle Arbeit niemals geschafft.» Wer den Dirigenten bei den Proben und im Konzert erlebt, stellt fest: Er sprüht förmlich vor Energie und Lust, bestimmte Stellen so und nicht anders mit einem Ensemble auszukosten, dem unter vielen anderen so bekannte Musikerinnen und Musiker wie Valeria Curti, Moritz Roelcke, Sebastian Bohren, Salome Etter, Mischa Tapernoux, Carola Gloor und Salome Zimmermann angehörten. Und nicht zu vergessen: der Pianist Oliver Schnyder, der dem SJO das «erste richtige Engagement verdankte», als er noch Kantonsschüler war. Dieses Erlebnis hat der weltweit auftretende Musiker nie vergessen, weshalb er im kommenden Herbst wiederum mit diesem spielen wird. Das Programm ist für das SJO typisch: Es interpretiert mit Antonín Dvořáks 9. Sinfonie e-Moll op. 95 «Aus der Neuen Welt» ein beliebtes Werk, unterstützt mit Camille Saint-Saëns’ 5. Klavierkonzert F-Dur «Ägyptisches Konzert» den Solisten in einer selten aufgeführten Komposition. Schon heute freut man sich darauf und ist gespannt, was Marc Urech im Frühjahr 2024 aus dem Hut zaubern wird. Nichts, denn mit den Herbstkonzerten in Muri, Niederrohrdorf, Lengnau und Baden verabschiedet sich der Windischer nach 23 Jahren vom SJO. Wie? Marc Urech und das SJO gehören doch einfach zusammen! Marc Urech lächelt: Nein, es sind keine Abnutzungserscheinungen, die ihn zum Rücktritt bewegen. Stehe er vor dem Orchester, fühle er sich nach wie vor «erneuert und frisch». Aber nun gebe es einen Neustart. «Ein langjähriger Prozess hat mich dazu bewogen, das Orchester auf Ende dieses Jahres in andere Hände zu geben.» Der Windischer, der von sich sagt, «dass er auf vielen Hochzeiten tanzt», will sich künftig weiterhin seinen Aufgaben als Musiker in verschiedenen Ensembles, als Musikpädagoge im Unterricht für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie als Zuzüger im Musikkollegium Winterthur und als Leiter der Musikwerkstatt Brugg widmen, aber auch Raum für Neues lassen.

Das Siggenthaler Jugendorchester (SJO) mit seinem Dirigenten Marc Urech (rechts hinten). (Bild: zVg)

Neuer Dirigent ist «Eigengewächs»
Natürlich fällt Marc Urech der Abschied vom SJO alles andere als leicht. «Aber», fügt er nachdenklich hinzu, «ich bin froh, dass ich nicht mehr für derart vieles in geballter Ladung verantwortlich sein muss. Mit Jugendlichen einen homogenen Orchesterklang zu formen, ist Knochenarbeit und erfordert gleichzeitig viel Fingerspitzengefühl. Immer öfter kam es mir vor, als ob das alles etwas zu selbstverständlich ist.» Jedenfalls erfährt die Organisation des SJO gewisse Änderungen. Künftig wird zum Beispiel der neu gegründete Elternrat die Konzerte veranstalten und für die Infrastruktur sorgen.

Hadern mit den vor allem in der Pandemie schwierigen Umständen will Marc Urech nicht: «Die wunderbare Arbeit mit dem Orchester lässt mich alle Auf und Ab vergessen. Nun ist es Zeit, loszulassen und das SJO  an jemanden weiterzugeben, der spürt, dass es hierbei vor allem um Jugendarbeit geht.» Der neue Dirigent ist ein «Eigengewächs», das einst Mitglied im SJO war. Mit dem Nachfolger Roman Blum – Sohn von SJO-Gründer Walter Blum – schliesst sich ein weiterer Kreis. Marc Urech ist glücklich: «Das SJO lebt weiter.»