«Meinen Kopf leere ich beim Meditieren»

Ruedi Walter begleitet als Freiwilliger schwer kranke und sterbende Menschen. Dabei ist vor allem eine seiner Eigenschaften gefragt: warten.
Der Brugger Ruedi Walter (72) ist für den Begleitdienst Palliative Care tätig. (Bild: aru)

«Wenn ich schwer kranke und sterbende Menschen begleite, mache ich neue Erfahrungen. Ich lerne immer etwas dazu. Die Ausbildung in Palliative Care, dem Begleitdienst der Aargauer Landeskirchen, schloss ich 2017 ab. Seither bin ich in der Gruppe Windisch tätig, zu der die ganze Region Brugg gehört. In regelmässigen Weiterbildungen halte ich mein Wissen à jour. Supervisionen, in denen man sich austauschen und Situationen verarbeiten kann, gehören zum Programm. Dass wir der Schweigepflicht unterstehen, ist Pflicht. In diesem Rahmen können wir auf freiwilliger Basis ein professionelles Angebot zur Verfügung stellen.

Ursprünglich komme ich aus dem technischen Metier, ich bin Maschinenzeichner, habe viele Jahre in der Industrie und später bei einer Bank gearbeitet. Aus einer persönlichen Krise heraus entsprang mein Bedürfnis, mich psychologisch weiterzubilden. Meine Ausbildung am Adler-Institut in Zürich schloss ich 2013 mit dem Diplom ab. In meiner Abschlussarbeit beschäftigte ich mich mit dem Thema «Verdingt – und was daraus wurde», das ich aus meiner eigenen Familie kenne. Mein Weg führte mich weiter zur Ausbildung in Palliative Care. Das war für mich ehemals kopflastigen Menschen eine grosse Erweiterung. Dass ich erleben durfte, wie meine Mutter mithilfe von Begleitdiensten bis eine Woche vor ihrem Tod – sie starb 2019 mit 96 Jahren – zu Hause sein konnte, hat mir zusätzlich gezeigt, wie wertvoll eine solche Unterstützung sein kann. Deshalb engagiere ich mich gern freiwillig.

Wenn ich schwer kranke und sterbende Menschen begleite, schaue ich gut darauf, eine professionelle Haltung einzunehmen. Es gibt sehr schwierige Situationen, und würde ich mich zu sehr in sie verwickeln, wäre ich keine Unterstützung mehr.

Zu Beginn – zum Beispiel wenn ich eine Nachtwache übernehme – treffe ich auf eine Kontaktperson, oft sind es Angehörige, die mich instruieren und mir das Wichtigste mitteilen. Dazu gehört, dass ich weiss, wo die Toilette, die Küche, allenfalls Medikamente sind. Solche Absprachen sind wesentlich, denn schliesslich betrete ich die Räumlichkeiten von anderen. Kleine Aufgaben wie Umlagerungen, die Benetzung des Mundes, die Begleitung zur Toilette oder das Verabreichen eines Medikaments darf ich übernehmen – dafür wurde ich ausgebildet. Es ist aber wichtig, dass ich meine Grenzen kenne und genau weiss, wann ich Hilfe holen muss. Ich habe jederzeit die Notfallnummer der Angehörigen zur Hand. Das gibt mir Sicherheit, denn ich habe eine grosse Verantwortung.

Jede Situation ist anders, und jedes Sterben äusserst individuell. Es braucht grosse Offenheit, sich immer wieder darauf einzulassen und alle Vorstellungen, wie es sein könnte, abzulegen. Meinen Kopf leere ich beim regelmässigen Meditieren. Das hilft mir, geduldig zu sein und schwierige Situationen auszuhalten. Gerade wenn jemand Schmerzen hat oder – wie das oft in der letzten Phase des Lebens der Fall ist – rasselnd und schwer atmet, ist es wichtig, dass ich ruhig und präsent bleibe. Vielleicht sind dieses Dasein und Wartenkönnen die wesentlichsten Eigenschaften, die es bei diesem Dienst braucht.

Im Moment bin ich für etwa zwei bis drei Begleitungen pro Jahr eingeteilt, aber unsere Gruppe hat auf jeden Fall noch Kapazitäten für weitere Dienste. Viele Menschen wissen gar nicht, dass es dieses Angebot gibt, oder haben Hemmungen, es in Anspruch zu nehmen. Es ist aber total offen für alle. Ins Leben gerufen wurde das Angebot, um Angehörige zu entlasten – damit sie einmal durchatmen und andere wichtige Dinge erledigen können. Viele brauchen auch einfach Schlaf, denn Betreuungsdienste sind anstrengend.

Wir unterstützen Betroffene, Angehörige und ihre Familien und das Pflegepersonal. Buchen kann man uns stundenweise und kostenlos für Einsätze am Tag, Sitznachtwachen, Gespräche und Begleitung – und das zu Hause, im Alters- und Pflegeheim oder im Spital. Es kam sogar schon vor, dass ich über längere Zeit immer an einem fixen Tag in der Woche bei jemandem im Einsatz war. Es ist vieles möglich, und wir richten uns ganz nach den Bedürfnissen der Auftraggebenden. Ich schätze es, dass diese Tätigkeit so abwechslungsreich ist. Ich lerne immer wieder neue Menschen, Situationen und Krankheitsbilder kennen, und in irgendeiner Form bereite ich mich so auch auf den eigenen Tod vor. Wenn es dann so weit ist, möchte ich es nehmen können, wie es kommt – möglichst unvoreingenommen. In einer Patientenverfügung habe ich festgehalten, dass ich ab einem gewissen Moment palliativ betreut werden möchte. Ich kann mir gut vorstellen, diese Dienstleistung der Landeskirchen einst selbst in Anspruch zu nehmen.

Dass der Tod nicht mehr externalisiert wird, sondern mitten in unsere Gesellschaft zurückfindet, ist mir ein grosses Anliegen. Er gehört zu unserem Leben und rundet es ab. Die Beschäftigung mit schwer kranken und sterbenden Menschen empfinde ich als zutiefst sinnstiftend. Über die Situationen, die ich erlebe, darf ich aufgrund der Schweigepflicht nicht viel erzählen, aber ich bin oft sehr berührt, wenn ich nach einem Einsatz nach Hause gehe. Ein besonders schöner Moment war, als ich am Morgen nach einer Nachtwache von den Grosskindern der schwer kranken Person abgelöst wurde. Solche Szenen prägen sich tief ein.»