Sie trägt ein kurzes sommerliches Leinenkleid, schimmernde Perlenohrringe und sieht wesentlich jünger aus, als sie ist. Ihr Lebenselixier? «Neugier», sagt Viola Vogel und fügt hinzu, «nur wer neugierig ist, kann gute Wissenschaft und Forschung betreiben.» Die Professorin ist am Departement für Gesundheitswissenschaften und Technologie der ETH Zürich angestellt und hat als Forscherin mit ihren 63 Jahren schon mehrmals absolutes Neuland betreten. Nach einem Lehramt und anschliessendem Physikstudium führte sie ihre weitere Ausbildung ans Max-Planck-Institut nach Göttingen. «Es gab damals nur wenige Kommilitoninnen», erinnert sich die gebürtige Deutsche. Jahre später erlaubte es ihr die seltene Spezialisierung auf die Fächer Physik und Biologie, eine Assistenzprofessur an der amerikanischen University of Washington in Seattle anzutreten. Sie setzte ihren Fokus auf Bioingenieurwissenschaften und wurde in Seattle in diesem Departement schliesslich die erste Professorin.
2004 kam sie zurück in die Schweiz und trat eine Stelle am Departement für Materialwissenschaften der ETH an. Auch in diesem Department war sie die erste Professorin und hatte eine Vorreiterrolle. In dem Forschungslabor, das sie heute leitet, steht sie 20 wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der ganzen Welt vor. «Kreativität wird durch Vielfalt gefördert», ist sie überzeugt, und sie liebt es, mit intelligenten jungen Menschen unterschiedlichster Nationalitäten zu arbeiten. Rund die Hälfte davon sind Frauen. «Eine gesunde Durchmischung verbessert das Arbeitsklima», bekundet Vogel aus eigener Erfahrung.
Baden ist ihre Wahlheimat
Seit bald 20 Jahren wohnt Viola Vogel in der Altstadt von Baden. Ihre Wahl fiel auf die Aargauer Gemeinde, weil sie als Mutter von zwei Kindern Beruf und Familienleben miteinander verbinden wollte. «In den USA waren die dafür geschaffenen Strukturen gut. In der Schweiz damals leider noch nicht. Baden war einer der ersten Orte mit einer Tagesschule», erinnert sie sich und schwärmt über ihre Wahlheimat: «Hier geniesse ich mit der Familie ein Kulturangebot, das vielen grossen Städten gut anstehen würde, in einem trotzdem persönlichen Ambiente, wo man sich noch auf der Strasse kennt.» An die ETH Zürich pendelt sie täglich mit dem Zug und begibt sich mit ihrem Team auch im dortigen Departement auf bisher unbekanntes Territorium.
Die Zukunft der Krebstherapie?
Bei der Suche nach den Ursachen von bösartigen Tumorzellen beschäftigte sich die Wissenschaft in der Vergangenheit vorrangig mit biochemischen Vorgängen und richtete die Aufmerksamkeit auf Hormone, Zytokine und Medikamente. Vogel erforscht, wie physikalische Faktoren (beispielsweise die Steifigkeit des Gewebes) das Zellwachstum steuern und wie diese Erkenntnisse später in der Medizin für Krebskranke genutzt werden können. «Ob die physikalischen Prozesse, die wir auf der zellulären Ebene erkannt haben, auch im menschlichen Gewebe stattfinden, untersuchen wir vor allem mittels Experimenten an Zellkulturen und menschlichen Gewebeproben, die für medizinische Zwecke genutzt werden dürfen», erklärt sie. Die ETH arbeitet dafür eng mit dem Kantonsspital Baden, dem Paul-Scherrer-Institut und der Charité in Berlin zusammen. Vogel hat mit ihrem Team die erste Nanosonde entwickelt, mit der die Spannung einzelner Gewebefasern gemessen werden kann. Und sie sieht sich noch lange nicht am Ziel: «Seit 30 Jahren versucht man Krebstherapien zu verbessern. Aber es sterben immer noch zu viele Menschen an der Krankheit. Die bisherigen Lösungsansätze sind ungenügend. Deshalb müssen wir uns hinterfragen: Was haben wir bisher übersehen?»
Jugend in Afghanistan
Vogel ist eine Kosmopolitin. Sie hält Vorlesungen an Universitäten auf der ganzen Welt. Aber schon als Kind lernte sie dank ihrem Vater, der Geologieprofessor war, fremde Länder kennen und lebte sogar drei Jahre in Kabul (Afghanistan). Im Rückblick meint sie: «Ich erlebte damals in den sechziger Jahren eines der ärmsten Länder der Welt, was wir heute als seine ‹Blütezeit› ansehen. Es ist unvorstellbar, dass sich die Lebenssituation der Afghanen seither so dramatisch verschlechtert hat. Frauen – zumindest in den grösseren Städten – waren damals viel freier als heute und westlich gekleidet.» Nachdem sie promoviert hatte, verbrachte sie 1988 zwei Monate in China. «Touristen hatte es damals beim allerersten Aufbau nach Mao noch praktisch keine. Es gab kaum Hotels und die ersten Kaufhäuser wurden erst gebaut», erinnert sie sich. Ihr nächstes Ziel war Japan. Reisen erachtet sie als wichtig, um neue Gesichtspunkte kennenzulernen, Hintergründe zu verstehen und nicht vorschnell Urteile zu fällen. Vogel hat sich in der Forschung international einen Namen gemacht. Schon jetzt hat sie Anfragen von Universitäten aus dem In- und Ausland, um ihre Berufserfahrung auch nach der Pensionierung an der ETH einzubringen. Die Welt wird ihr auch dann nach wie vor offenstehen.