Das Zitat des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl, «Wer die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten will, muss die Vergangenheit kennen», trifft auch auf die Entwicklung des Schweizerischen Pestalozziheims in Birr – des heutigen Berufsbildungsheims Neuhof – zu. Dessen Wurzeln gehen auf Johann Heinrich Pestalozzi zurück, der den Neuhof 1771 aufbaute, dabei aber Schiffbruch erlitt und im Testament trotzdem den Wunsch äusserte, das Landgut möge als Symbol der Wohltätigkeit und der Menschenfreundlichkeit erhalten bleiben. Das ist letztlich über Hochs und Tiefs hinweg gelungen. Die bewegte Geschichte lässt sich an einigen Wegmarken ablesen – und ihre Fortsetzung zeichnet sich in neuen Plänen ab. Der nächste grosse Schritt ist die Aufnahme junger Frauen.
Besitzerwechsel noch und noch
Bis 1840 gehörte der Neuhof der Familie Pestalozzi. Dann wurde er erstmals verkauft und wechselte bis 1891 achtmal den Besitzer. Jeder Halter nahm beim Wegzug mit, was nicht niet- und nagelfest war. Der Betrieb zerfiel. Zwar wurde mehrmals versucht, das Gut der Spekulation zu entziehen. So wollte der Grosse Rat wenige Jahre nach der Kantonsgründung im Neuhof ein Erziehungsheim einrichten, doch fehlten die Mittel dazu. Auch ein weiterer Versuch von Vereinen und Behörden, Pestalozzi zu dessen 100. Geburtstag, 1846, mit der Eröffnung einer Jugendstätte zu ehren, scheiterte – dieses Mal an politischen und konfessionellen Widerständen.
Schliesslich erwarb der Arzt Dr. Robert Glauser aus Muri 1907 den Neuhof für 120 000 Franken von Graf de Béon aus Paris, «um einfach wieder Ordnung zu schaffen und den Geburtsort der schweizerischen Volksschule zu einem Nationaldenkmal zu erheben». Eine Kommission plante eine landwirtschaftlich-gewerbliche Kolonie für die Unterbringung, die Erziehung und die Berufsbildung von Jugendlichen. Die 1912 gegründete Schweizerische Pestalozzistiftung wurde Trägerin des Neuhofs. Mit Beiträgen von Bund, Kantonen und Gemeinden sowie einer Sammelaktion der Schulen und der Bundesfeierspende 1914 kamen 270 000 Franken zusammen. Am 12. Januar 1914 ging das Erziehungsheim auf. Betriebskapital war keines vorhanden. Man lebte zunächst von der Hand in den Mund.
Allen Problemen zum Trotz
Trotz den engen finanziellen Verhältnissen trieben die beiden ersten Heimleiter Otto Baumgartner von 1914 bis 1952 und der Sohn Martin Baumgartner von 1953 bis 1983 – also während insgesamt 69 Jahren – den Ausbau des Neuhofs tatkräftig voran. Sie führten den vorher verpachteten Landwirtschaftsbetrieb selbst weiter und eröffneten zu Ausbildungs- und Beschäftigungszwecken eine Gärtnerei, Schreinerei, Schuhmacherei und Bauschlosserei. Später kamen eine Schneiderei und Malerei dazu. Die Zahl der Jugendlichen stieg von anfänglich 20 auf 40 und bis auf 70. Das erforderte zusätzliche Unterkünfte. Doch Brände der Scheune, 1919 und 1966, sowie des Herrenhauses, 1943, sowie schon viel früher, 1858, auch des Pächterhauses – die beide noch aus Pestalozzis Zeit stammten – verschärften die Finanzlage. Zeitweise stellte der hohe Schuldenberg die Weiterexistenz des Heims infrage.
Wegweisendes neues Konzept
1962 gelang es, mit den am Neuhof interessierten Kantonen ein Abkommen über die Betriebsfinanzierung zu schliessen. Gleichzeitig trat im Aargau das neue Jugendheimgesetz in Kraft. Die Betriebskosten wurden nun zu je einem Drittel vom Bund, vom Kanton Aargau und von den übrigen Kantonen getragen. Dadurch habe der Neuhof erstmals über eine gesicherte finanzielle Basis verfügt, wie Martin Baumgartner in den «Brugger Neujahrsblättern» 1978 feststellte. Diese Sicherheit ermöglichte ein neues Bau- und Betriebskonzept. Das sollte – 200 Jahre nach Pestalozzis Einzug in den Neuhof – eine historische Wegmarke werden.
Das Generalprojekt umfasste umfangreiche Renovations- und Umbauarbeiten und vor allem den Neubau von vier Gruppenhäusern. Dem Konzept lag Pestalozzis Idee der «Wohnstubenerziehung» zugrunde. Statt in kollektiven Räumen hausten nun je zehn bis zwölf Jugendliche und eine Erzieherfamilie gemeinsam unter einem Dach. So sollten die Zöglinge, die oft aus zerrütteten Verhältnissen kamen, wieder in eine familiäre Lebensgemeinschaft eingebunden werden. Das Modell galt als fortschrittlich, erwies sich aber als strapaziös. Nach einigen Jahren liessen sich für diese Wohnform keine Elternpaare mehr finden. Aber zur Einweihung der Gruppenhäuser im August 1973 kam Bundesrat Kurt Furgler auf den Neuhof.
Zum Abschluss der grössten Erneuerung in seiner bisherigen Geschichte wurde dem Heim im Frühjahr 1973 die Plastik «Der Reiter» von Bildhauer Eduard Spörri geschenkt. Zur selben Zeit erregte die Heimkampagne die Gemüter. Sie beanstandete die Einweisung von Kindern und Jugendlichen in Erziehungsanstalten und die dortige als repressiv erachtete erzieherische Praxis. Die Kritik traf den Neuhof nicht direkt. Er war immer ein offenes Heim, ohne Zäune, ohne Gitter. Zudem entschärfte Pestalozzis Dogma «Mit Kopf, Herz und Hand» die Vorurteile, wie es ausserdem im neuen Wohnheimkonzept zum Ausdruck kam. Doch der gesellschaftliche Wandel und neue Anforderungen in der Berufsbildung drängten den Neuhof zu Anpassungen.
Auf dem Weg zum Campus
In den letzten 40 Jahren prägten Um- und Neubauten, erweiterte Wohn-, Schul- und Ausbildungsangebote mit mehr Freiraum und Selbstverantwortung sowie eine verstärkte, professionelle sozialpädagogische Begleitung der Jugendlichen die Entwicklung des Neuhofs. Die 30-jährigen Gruppenhäuser wurden wegen energetischer und konzeptioneller Mängel ersetzt. Der Landwirtschaftsbetrieb wechselte auf Biostandard, ebenso die mit dem Pro-Specie-Rara-Gütesiegel erneuerte Gärtnerei. Die eigene Quellwasserversorgung wurde erneuert, das Schwimmbad in einen Biopool umgestaltet, das Zentralgebäude saniert, die handwerklichen Lehrbetriebe unter einem Dach zusammengefasst und eine Schule für Berufsvorbereitung eröffnet.
Frauen in Sicht
Derzeit bietet der Neuhof rund 40 Jugendlichen neun Ausbildungsmöglichkeiten in Gartenbau, Gärtnerei, Gastronomie, Landwirtschaft, Malerei, Metallbau, Schreinerei, Neuhof-Märt und Werkstattvorbereitung, in der die Schüler mit Berufswahl und Lehrstellensuche konfrontiert werden. Die Ausbildungs- und Gewerbebetriebe arbeiten marktorientiert, sie erwirtschaften ein Drittel des Budgets, wobei Aufträge von Dritten den Lernenden ein realistisches Bild der Arbeitswelt vermitteln. Auf dem Neuhof-Areal betreibt ebenfalls Jardin Suisse Aargau, der Berufsverband der Gärtner und Gartenbauer, neuerdings ein Kurszentrum. Wahrscheinlich kommt bald ein weiteres solches Projekt einer anderen Branche hinzu. Das schafft Synergien zum Heim – der Neuhof bekommt Campus-Charakter.
Drei nächste Entwicklungsschritte stehen bevor. Erstens stellt der Neuhof Land für einen Kiesabbau der Firma Kibag zur Verfügung, die in der Nachbarschaft bereits ein Kieswerk mit Bahnanschluss betreibt. Die Entschädigung wird in eine neue Förderstiftung fliessen, mit der das Berufsbildungsheim den Erhalt und den Ausbau seiner Infrastruktur unterstützt. Zweitens strebt der Neuhof-Campus eine Energieautarkie an, bei der sämtliche benötigte Energie aus erneuerbaren Ressourcen vor Ort oder in
unmittelbarer Umgebung erzeugt werden soll. Dazu gehören Solar- und Windenergie, Geothermie, Wasserkraft, Gülle und organische Abfälle. Beim anspruchsvollen Konzept mit Vorbildcharakter wird der Neuhof vom Softwareunternehmen Sympheny unterstützt, einem Spin-off des Schweizer Forschungsinstituts Empa.
Der dritte bedeutende Zukunftsschritt in der 109-jährigen Geschichte des Berufsbildungsheims ist die Integration, die Betreuung und die Ausbildung von jungen Frauen. Bislang fehlten der Jugendstaatsanwaltschaft sowie der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) im Aargau ein Wohn- und Ausbildungsangebot für vernachlässigte oder misshandelte oder straffällig gewordene weibliche Jugendliche; einige Plätze werden ausserkantonal belegt. Für die Frauen eröffnet der Neuhof eine externe, rund um die Uhr betreute Wohngruppe in einer neu erworbenen, geeigneten Liegenschaft in Möriken. Zur Ausbildung und Beschäftigung kommen die Bewohnerinnen tagsüber nach Birr – mit E-Bikes oder dem Heimbus. Für die Lernwerkstätten wie die Gärtnerei und die Gastronomie, aber auch für handwerkliche Berufe verspricht sich die Heimleitung durch die weibliche Belegung eine Aufwertung. Die Eröffnung ist für nächsten Februar vorgesehen.