Lebensmittel – zu wertvoll für den Abfall?

Mit effizienter Logistik und angesagten Labeln will die Migros Food Waste reduzieren. Hält der Grossist in Brugg die Versprechen ein?
Mit Aktionen wie «Ganz schön anders» will die Migros Brugg Neumarkt der Kundschaft die Möglichkeit geben, etwas gegen Lebensmittelverschwendung zu tun. (Bild: cd)

Es ist Dienstag, abends um zehn Minuten vor sechs. Im Restaurant der Migros Brugg Neumarkt wird das Buffet abgeräumt. Noch hat das Restaurant geöffnet – die offizielle Öffnungszeit lautet von 7.30 bis 18 Uhr. Das Abräumen des Buffets selbst sieht so aus: Alle vorhandenen Lebensmittel werden in einen grossen rechteckigen Behälter auf Rädern gekippt. Auf Nachfrage bei der Verkäuferin, was mit den Lebensmitteln nun passiere, antwortet sie, man schmeisse sie weg. Das sei eben so. Eine Weisung «von oben».

An der Tür zum Migros-Restaurant Brugg Neumarkt ist ein Kleber angebracht, «Wir retten Lebensmittel», und darunter «Too Good To Go». Die Migros in Brugg hat sich diesem Label 2021 angeschlossen. «Too Good To Go» ist eine Massnahme gegen Lebensmittelverschwendung. Die geschilderte Beobachtung wirft die Frage auf, wie konsequent die Migros Brugg das Label, mit dem sie sich auszeichnet, umsetzt und ob darüber hinaus etwas gegen Lebensmittelverlust (von der Produktion bis zum Einzelhandel) und Lebensmittelverschwendung unternommen wird, verursacht durch Konsumentinnen und Konsumenten sowie die Gastronomie.

Die angefragte Restaurantleitung verweist an die Kommunikationsabteilung der Genossenschaft Migros Aare. Die Antwort von Mediensprecherin Neda Golafchan lautet: «Die Produkte, die noch einwandfrei sind, werden via ‹Too Good To Go› verkauft, alles andere wird an die Biogasanlage abgegeben.»

Keine Auskunft über Take-away
Die Migros Brugg Neumarkt ist von montags bis samstags von 8 bis 20 Uhr geöffnet. Bis Ladenschluss können am Take-away warme und kalte, frisch zubereitete Lebensmittel gekauft werden. Fragen darüber, was mit den Lebensmitteln geschieht, die um 20 Uhr übrig sind, leitet die Filialleitung der Migros in Brugg kommentarlos an die Genossenschaft Migros Aare weiter und diese an die Direktion Kommunikation und Medien des Migros-Genossenschafts-Bunds in Zürich. Seine Antwort lautet, dass innerhalb der Frist von mehreren Arbeitstagen «keine Angaben eruiert» werden können. Auch nach der gewährten Verlängerung folgt keine Auskunft darüber, was mit den Lebensmittelüberschüssen vom Take-away nach Ladenschluss geschieht.

Zu gut für den Abfall
In Erfahrung bringen lässt sich hingegen einiges zu «Too Good To Go». Über ein Drittel aller Lebensmittel werde weggeworfen, heisst es auf deren Homepage. «Too Good To Go» hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. Mit einer App können Kundinnen und Kunden Nahrungsmittel aus Supermärkten und Restaurants, die sich dem Programm angeschlossen haben, vergünstigt beziehen und sie eine halbe Stunde vor Ladenschluss abholen.

In der Migros Brugg Neumarkt seien bis Juli dieses Jahres 1525 «Too Good To Go»-Pakete aus dem Supermarkt und 939 aus dem Restaurant zu ungefähr einem Drittel des Originalpreises verkauft worden, wie Patrick Stöpper von der Direktion Kommunikation und Medien des Migros-Genossenschafts-Bunds auf Anfrage bekannt gibt.

Die Bestrebung, Lebensmittelverschwendung zu reduzieren, hat das Bundesamt für Umwelt (Bafu) im Jahr 2019 mit einem beabsichtigten politischen Aktionsplan gegen Lebensmittelverschwendung angestossen. Im gleichen Jahr wurde die ETH Zürich beauftragt, einen Grundlagenbericht auszuarbeiten, die das Ausmass dieser Wertvernichtung in der Schweiz in Zahlen erfassen sollte. Die Ergebnisse der Studie (Beretta und Hellweg, 2019), die eine Vielzahl von Daten und Erhebungen heranzieht, zeigten, dass pro Jahr und pro Kopf schweizweit 329 Kilogramm Lebensmittel vernichtet werden, und zwar noch bevor sie überhaupt auf den Tisch gelangen.

Aktionsplan des Bundes
Total sind das 2,8 Millionen Tonnen Nahrungsmittel pro Jahr oder mehr als ein Drittel der produzierten Lebensmittel. Mit dem unterdessen ausformulierten Aktionsplan gegen die Lebensmittelverschwendung will der Bundesrat die vermeidbaren Lebensmittelverluste bis 2030 gegenüber 2017 halbieren. Dies in Übereinstimmung mit dem Ziel 12.3 der Agenda 2030 der UNO für nachhaltige Entwicklung, welche die Schweiz im Jahr 2015 gemeinsam mit mehr als 190 weiteren Staaten verabschiedete. Trotz der nur noch wenigen Jahre, die für die Erreichung des Ziels der Agenda 2030 bleiben, agiert die Schweiz zögerlich. Der Bund betreibt in seinem Aktionsplan zwar eine Problemanalyse und hält Punkte fest, die sich jedoch über Empfehlungen nicht hinauswagen: «Die Umsetzung des Aktionsplans erfolgt in zwei Phasen: Phase eins von 2022 bis 2025 und Phase zwei von 2026 bis 2030. In der ersten Phase stehen die freiwilligen, eigenverantwortlichen Massnahmen der Wirtschaft im Zentrum. In der zweiten Phase kann der Bundesrat weiterführende Massnahmen ergreifen, falls das nötig ist, um die Ziele zu erreichen.»

Die vermeidbaren Lebensmittelverluste in der Schweiz durch Gross- und Detailhändler belaufen sich gemäss Bafu pro Jahr auf derzeit 279 000 Tonnen (ohne Lebensmittelverluste von Importen). Grossisten wie die Migros stehen als mächtige Akteure im Zentrum des Ernährungssystems und gestalten Angebot und Nachfrage massgeblich mit. Ihnen kommt deshalb auch ein grösseres Gewicht und mehr Verantwortung in der Besetzung der Vorbildrolle auch dort zu, wo es darum geht, den Verlust essbarer Lebensmittel vom Acker bis auf den Teller markant zu reduzieren.

Planung und Logistik ist alles
Die Grosshändlerin selbst argumentiert, dass sie ein klares Interesse daran habe, wirtschaftliche Verluste zu vermeiden. «Wir motivieren unsere wirtschaftlichen Treiber, Lebensmittelverluste möglichst klein zu halten. Jedes Produkt, das wir eingekauft haben und später wieder vernichten müssen, bringt nichts ein», erklärt Patrick Stöpper. «Die wichtigsten und zugleich unspektakulärsten Faktoren in der Bekämpfung von Food Waste sind eine gute Planung und eine effiziente Logistik.»

Doch trotz der angeblich optimierten Bewirtschaftungssysteme wurden im Jahr 2022 schweizweit rund 300 000 «Too Good To Go»-Lebensmittelpakete allein von der Migros an Privatpersonen abgegeben. Weitere überschüssige Nahrungsmittel werden in «partnerschaftlichen Kollaborationen innerhalb der Branche gesucht», wie Stöpper festhält, und es werde zudem mit karitativen Organisationen und Partnern zusammengearbeitet. «Alle Supermärkte der Genossenschaft Migros Aare, so ebenfalls die Migros Brugg Neumarkt, spenden Lebensmittel an die Schweizer Tafel, die diese dann an Gassenküchen, Obdachlosenheime, Frauenhäuser, Abgabestellen von Kirchen, Asylunterkünfte, das Schweizerische Rote Kreuz und die Heilsarmee weitergibt», zählt Patrick Stöpper auf. «Im Jahr 2022 waren es rund 6,4 Millionen Mahlzeiten, die an Personen an oder unter der Armutsgrenze gespendet wurden. Weiter gibt die Migros Brugg Neumarkt Lebensmittelabfälle als Tierfutter ab.» Ein bislang weitgehend unberührtes Thema bleibt, ob diese Abfälle überhaupt einer artgerechten Fütterung entsprechen.

«Keine konkreten Zahlen»
Zahlen zu den Mahlzeiten an Bedürftige bestehen und werden bekannt gegeben: Angaben dazu, wie viele Tonnen Lebensmittel die Migros pro Jahr faktisch vernichtet, werden auch nach wiederholter Nachfrage nicht kommuniziert. «Wir nennen keine konkreten Zahlen», so Stöpper. Die Grossistin, die gewiss alle Warenwege und mengen in Statistiken verzeichnet, kann oder will also auf der dunklen Seite der Bilanz keine Auskunft geben. «Eine solche Zahl ist im Vergleich zu einer Prozentangabe nicht aussagekräftig und hilft nicht bei der Einordnung», heisst es schliesslich nach mehrmaliger Nachfrage.  

6,4 Millionen Mahlzeiten
Den Anteil an Lebensmittelverschwendung will die Migros also nicht kommunizieren. Auf eine anders formulierte Frage lautet die Antwort schliesslich: «Über das gesamte Sor­timent werden pro Jahr knapp 1,3 Prozent der Lebensmittel in den Migros-Filialen nicht verkauft oder eben abgegeben.» Können 1,3 Prozent abgegebene Lebensmittel ganze 6,4 Millionen Mahlzeiten pro Jahr generieren? «Zur Präzision: Ein Prozent sind am Schluss jene Produkte, die nicht verkauft, nicht an Mitarbeitende oder an Organisationen wie ‹Too Good To Go› abgegeben werden können», lautet die Antwort von Carmen Hefti vom Migros-Genossenschafts-Bund. Damit bleiben 0,3 Prozent, um 6,4 Millionen Mahlzeiten pro Jahr abzugeben. Pro Tag macht das 16 438 Mahlzeiten.

Der «Food Waste Index Report 2022» der UNO zeigt, dass weltweit über 930 Millionen Tonnen Lebensmittel in den Abfallkübeln von Haushalten, Gastronomie und Einzelhandel landen, nachdem sie eingekauft worden sind. Das sind 17 Prozent der gesamten global verfügbaren Lebensmittel, die letztes Jahr zur Verfügung standen. «Wären Lebensmittelverlust und Lebensmittelverschwendung ein Land, es wäre die drittgrösste Quelle von Treibhausgasemissionen. Lebensmittelabfälle belasten die Abfallwirtschaftssysteme, verschärfen die Ernährungsunsicherheit und tragen wesentlich zu den drei planetarischen Krisen Klimawandel, Biodiversitätsverlust und Umweltverschmutzung bei», schrieb Inger Andersen, Direktorin des Umweltprogramms der UNO (Unep) im Vorwort des «Food Waste Index Report 2021». Präzis mit Zahlen belegen lässt sich das weltweite Problem nur schwer. Nationale wie internationale Statistiken verwenden in Studien bei der Operationalisierung der Indikatoren Lebensmittelverlust, Lebensmittelverschwendung, Nahrungsmittelvernichtung und -verwertung (zu Tierfutter) uneinheitlich, vermischen sie oder übertragen sie in Übersetzungen nicht akkurat aus der Ursprungssprache. So konzentriert sich beispielsweise der Food-Loss-Index der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO, auf die Nahrungsmittelverluste, die von der Produktion bis zum Einzelhandel auftreten, Letzteren dabei aber ausschliessen. Der Food Waste-Index von Unep, das seinen ersten und bislang einzigen Bericht 2021 veröffentlichte, misst hingegen die Lebensmittelverschwendung im Haushalt, im Lebensmittelservicebereich und im Einzelhandel zusammen.

Zu krumm, zu klein, zu hässlich?
Aber nicht nur überschüssige Lebensmittel sind ein Problem. Auch diejenigen, die es aufgrund von Abweichungen von der Norm gar nicht erst in die Auslagen der Detail- und Grosshändler schaffen, stellen eines dar. «Unförmiges Gemüse, das nicht in den Verkauf kommt, wird in der Regel bei der Migros in den Gastro- und Industriekanälen verarbeitet, beispielsweise zu Saucen oder Säften. Es entsteht also kein Food Waste, auch wenn kaum unförmiges Gemüse und unförmige Früchte in den Filialen angeboten werden», informiert Patrick Stöpper. Zudem würden unter dem Label «Ganz schön anders» punktuell nonkonforme Produkte abgesetzt, sagt der Migros-Sprecher und führt an: «Um die Kundenakzeptanz zu erhöhen, begleiten wir ‹Ganz schön anders›-Aktionen kommunikativ am Verkaufsstandort.»

Bei «Ganz schön anders» handelt es sich um Frischprodukte, die aufgrund von Naturgewalten oder Ernteproblemen deutliche Abweichungen zur Norm aufweisen und die temporär ins Sortiment aufgenommen werden. Es sei niemandem gedient, wenn die Migros mehr Produkte in den Filialen zum Verkauf anbiete, als verkauft werden könnten. «Das würde noch mehr Food Waste generieren. Die Migros ist enorm engagiert, in ihrem Verantwortungsbereich Lebensmittelverschwendung zu minimieren. Sie sieht sich verpflichtet, ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen, und orientiert sich an bundesrätlichen Vorgaben wie dem Aktionsplan», hebt Stöpper hervor.

Dieses Versprechen lässt sich allerdings schwer festmachen. Grossistin Migros bezieht sich auf bundesrätliche Vorgaben, die in der derzeitigen Phase aber noch immer «freiwilligen, eigenverantwortlichen Massnahmen» unterliegen – und deshalb nur schwer oder gar nicht kontrolliert werden können.