Ihre Gesten sind agil und klar. Lena-Lisa Wüstendörfer dirigiert aus der Musik heraus und hält dabei engen Blickkontakt mit den Musikern. Nun kommt die bekannte Schweizer Dirigentin für zwei Konzerte nach Brugg. Die Programme hat aber nicht sie, sondern Festivalintendant Sebastian Bohren zusammengestellt. Am Eröffnungsabend spielen nur Streicher, entsprechend intim ist die Musik. Die Mischung aus bekannten und weniger bekannten Namen wie Frank Martin, Giya Kancheli und Antonín Dvořák verspricht schillernde Farben.
«Wüstendörfer» ist ein klingender Name. Lena-Lisa ist die Tochter des bekannten Schauspielers Edzard Wüstendörfer (1925–2016), der am Schauspielhaus Zürich als Ensemblemitglied engagiert war. Auch die Tochter hat schauspielerisches Talent, ihre Konzerte mit dem Swiss Orchestra moderiert Lena-Lisa Wüstendörfer jedenfalls gern selbst.
Vom Grossen ins Kleine
Zur Musik fühlte sie sich schon früh hingezogen. «Mich faszinierte bereits als kleines Kind der Orchesterklang. Verschiedene Instrumente vereinen ihre Farben zu einem neuen Klang. Das war der Grund, weshalb ich Violine studiert habe. Mit der Zeit wurde mir aber bewusst, dass es der Dirigent ist, der sich um den Orchesterklang kümmert. Deshalb habe ich nach dem Violinstudium noch Dirigieren studiert.» Als Dirigentin hat man die volle Verantwortung und steht auf der Bühne im Rampenlicht. Auch ihr Vater war ein Bühnenmensch. Was konnte er seiner Tochter mitgeben? «Natürlich habe ich das Bühnenleben über meinen Vater mitbekommen. Ich erinnere mich gut daran, wie ich ihn einmal um Rat fragte: ‹Wie lernt man ein ganzes Stück auswendig, eine grosse Partitur?› Er war ein sehr pragmatischer Mensch und meinte nur: ‹Man setzt sich hin und tut es.›»
In der Partitur stehen die Stimmen aller Orchesterinstrumente untereinander, so hat die Dirigentin die Übersicht. Die Musikerinnen und Musiker im Orchester haben hingegen nur ihre eigene Stimme auf dem Notenständer. Eine Partitur zu lernen, ist eine komplexe Angelegenheit. Wie macht sie es? «Ich unterteile das Stück in Einzelteile. Für den ersten Eindruck studiere ich zuerst nur die Form, danach die dynamische Gestaltung und so fort. Ich gehe vom Grossen ins Kleine und dann wieder zurück ins Grosse.»
Das Dirigieren hat man, oder man hat es nicht. Lena-Lisa Wüstendörfer hat es, und sie liebt den Teamgeist, miteinander zu musizieren. Zwei namhafte Dirigentenpersönlichkeiten haben sie auf ihrem Weg geprägt. So suchte sie Rat bei Sylvia Caduff, der Schweizer Dirigierpionierin aus Luzern. Caduff war eine der ersten Frauen, welche die Berliner Philharmoniker dirigierten. «Mit Sylvia Caduff lernte ich die Standardliteratur, sie hatte einen enormen Erfahrungsschatz. Sie hat mir ein solides Wissen und Handwerk mitgegeben.»
Gründung des Swiss Orchestra
Gleich nach ihrem offiziellen Studium in Basel wurde Lena-Lisa Wüstendörfer von Claudio Abbado als Assistenzdirigentin angenommen. Bei solchen Weltstars ist das Assistieren nicht immer lustig, wie war das für sie? «Claudio Abbado war ein Klangmagier. Und plötzlich hatte ich Kontakt zu den besten Berufsorchestern. Bei ihm sah ich, was alles möglich ist. Wenn er eine Mahler-Sinfonie dirigierte, vermochte er aus dem Orchester eine riesige Palette von Klangcharakteren hervorzuzaubern – kein Fortissimo war gleich wie das andere.» Einem breiteren Publikum bekannt wurde Lena-Lisa Wüstendörfer, als sie im Herbst 2019 mit dem von ihr gegründeten Swiss Orchestra erstmals auf Schweizer Tournee ging. Es kommt öfter vor, dass junge Dirigenten ihre eigenen Ensembles gründen.
Doch für Lena-Lisa Wüstendörfer musste es gleich ein grosses Sinfonieorchester sein, es umfasst rund 50 Musikerinnen und Musiker. Weshalb? «Ich wurde auf Konzerttourneen ins Ausland, vor allem nach Asien, oft gefragt, ob ich nicht ein Werk eines Schweizer Komponisten mitbringen und dirigieren könne», erzählt die weitgereiste Gastdirigentin. «Und ich war jedes Mal wie vor den Kopf gestossen, weil mir ganz wenige Werke einfielen, schon gar nicht aus der Klassik und der Romantik.»
So machte sich Lena-Lisa Wüstendörfer, die ausserdem Musikwissenschaft studiert hat, in den Schweizer Archiven und Bibliotheken auf die Suche und fand überraschend viele interessante Stücke. Überzeugt von der Qualität und der Originalität dieser Schweizer Musik, wollte sie das ändern und gründete ihr Swiss Orchestra, mit dem sie seit ein paar Jahren in den grossen Konzertsälen der Schweiz gastiert. Dieses musikalische Schweizer Label gefiel auch Samih Sawiris, dem Grossinvestor des Feriendorfs Andermatt. Er berief die junge Dirigentin zur Intendantin von Andermatt Music, das Swiss Orchestra hat nun dort seine Heimat gefunden. Im Oktober steht die siebte Schweizer Tournee an, gespielt wird vom 26. Oktober bis zum 5. November in Zürich, Basel, St. Gallen, Andermatt und Winterthur.
bruggfestival.ch