Kunst in einem Zwischenbereich

Metagogik – was ist das? Eine Ausstellung und ein Buch versuchen, das Lebenswerk des Untersiggenthalers Norbert Ryser zu erklären.
Das Kunstteam: Martin Christen, Norbert Ryser und Heinz Sonderegger. (Bild: is)

Im September 2022 musste Norbert Ryser nach einem Unfall aus seiner Wohnung in Untersiggenthal ausziehen. Weil er sich lebensgefährliche Verletzungen zugezogen hatte und man davon ausging, dass er nicht in seine Wohnung würde zurückkehren können, wurde diese gekündigt und im September 2022 von seinen beiden Kunstteam-Kollegen Martin Christen und Heinz Sonderegger geräumt.

Christen traute seinen Augen kaum, was er in Rysers vier Wänden vorfand: Zehntausende von Hand beschriebene Blätter, lose, in C4-Couverts und Ordnern nach Themen geordnet oder auch nicht, in grauen Plastikkisten verstaut, die aufeinander gestapelt in allen Räumen standen. «Das alles sollte in der Kehrichtverbrennungsanlage Turgi entsorgt werden», erinnert sich Christen.

Das konnte der ehemalige Deutschlehrer nicht zulassen, denn sein Interesse war geweckt. Einerseits weil der Begriff «Metagogik», der im Kopf jedes einzelnen Blatts zu sehen ist, in keiner Suchmaschine zu finden war. Andererseits weil die Schrift, die gestalterischen Elemente – Kippbilder, Spiegelungen – und vor allem der kreative Umgang mit Sprache seine Neugier geweckt hatten. Christen beschloss, das riesige Archiv zu sichern und es vorerst in seinem Atelier in der Spinnerei Turgi zwischenzulagern.

Auf Zehntausenden von Blättern hat «Erfinder» Norbert Ryser seine Gedanken zur Methode der Metagogik festgehalten. Sein Lebenswerk ist noch bis zum 23. September in der Spinnerei Turgi zu sehen. (Bild: is)

Vergleich mit Emma Kunz
Was also ist Metagogik? «Es ist weder Literatur noch Kunst. Eine Arbeit in einem Zwischenbereich, den es so noch nicht gibt», erklärt Heinz Sonderegger. Der Grafiker hat gemeinsam mit Martin Christen die Werkschau in der Spinnerei Turgi gestaltet, die vorerst vom 9. bis 13. September lief. Sie besteht im Wesentlichen aus zwei Räumen, die von der André Roth AG kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Darin sind Tausende von Kunstdrucken und Blättern an Wänden und auf dem Boden präsentiert, mal geordnet, mal chaotisch. Die beiden Kuratoren nutzten den Tag der offenen Tür in der Spinnerei, um das Sprachbildwerk der Öffentlichkeit zu präsentieren: «Rysers Metagogik ist es wert, entdeckt zu werden. In seiner Dichte und Komplexität – nicht inhaltlich – erinnert das Werk an die Arbeiten von Eva Wipf und Emma Kunz.»

Für die Ausstellung hat Christen zehn Ordner bearbeitet und gesichtet – «das sind gerade einmal etwa drei Prozent von allen», erklärt er. Gleichzeitig haben Christen und Sonderegger einen Verein gegründet, um einen Archivraum finanzieren zu können. «Inventarisiert wird dann später.»

14 Jahre intensive Arbeit
Ja, was ist sie denn nun, die Metagogik? Ursprünglich habe er sie als Methode in der Erwachsenenbildung entwickelt, erzählt der Schöpfer des Begriffs, den es tatsächlich bis heute nicht gegeben hat und der sich aus Meta und Agogik zusammensetzt.

Die Metaebene ist die Spiegelung, das Prinzip, dass man alle nur denkbaren Themen aus allen nur denkbaren Perspektiven betrachten sollte, um ans Ziel zu kommen: «Die Wahrheit über das Leben zu finden.» Oder vielleicht auch sich selbst. In über 14-jähriger intensiver Arbeit hat der 74-jährige Ryser das Sprachbildwerk «Metagogik» erschaffen und weiterentwickelt. Seine Begriffsgebilde sind auf verschiedenen Ebenen gleich strukturiert und enthalten oft Konjugationen – um alle Perspektiven zu berücksichtigen. Diese Methode könne auf alle Themen der Welt angewendet werden, so Ryser: «Eine Einheit in der Vielfalt. Oberste Maxime: Es muss korrekt und logisch sein, sonst geht es nicht auf. Mit Schwachsinn hat man keinen Erfolg.»

Als Inspiration diente dem ehemaligen CEO eines grossen Unternehmens unter anderem Mani Matters «Ahneforschig»: «Für mi sälber mir z’erkläre – bin i mal mym Stammboum na». Dabei habe er den Begriff «Stammboum» durch «Dänke» ersetzt, denn oft ergebe sich ein komplett anderer Sinn, wenn man nur ein Wort verändere. Im Kern ist die Metagogik also eine Methode, um strukturiert zu denken. Um selbst zu denken.

Ein Buch, um zu verstehen
Das Prinzip der Metagogik hat Martin Christen erst nach einigen Wochen verstanden. Das Ganze hat den Turgemer, der unter seinem Pseudonym Melody Maurer bereits drei Romane veröffentlicht hat, zu einem weiteren Buch inspiriert: «Hugo Merapis Metagogik» (Merapi ist natürlich ebenfalls ein Pseudonym). Melody, eine Journalistin aus Turgi um die 30, versucht, sich der Metagogik anzunähern. Sie tut das, indem sie Vorkommnisse ihres eigenen WG-Alltags in Turgi mit lokal- und weltpolitischen Aktualitäten aus feministischer Sicht mit den metagogischen Grundsätzen, Fragestellungen und Erkenntnissen Merapis kunstvoll verknüpft. Fiktive und real existierende Ebenen werden darin miteinander verwoben. Die Handlung spielt von März 2023, dem Ja zur Fusion zwischen Baden und Turgi, bis Ende Juli 2023. Das Buch ist überall im Buchhandel erhältlich.

Das Buch enthält ausserdem zehn Geschichten von Norbert Ryser, «denn man muss den Leuten nicht die ganze Komplexität der Metagogik erklären, das schreckt sie ja ab», meint der Erfinder. «Am wirkungsvollsten ist es, eine Geschichte zu erzählen.» Rysers Arbeit geht derweil weiter, denn die Fülle der Fragestellungen und Themen im Leben sei ja unendlich. Das bestätigt Rysers Aussage: «Mein Denken ist viel schneller, als ich schreiben kann. Ich könnte Tag und Nacht nur schreiben. Das geht schon fast ins Thema künstliche Intelligenz.» Um Metagogik zu erfassen, muss man wohl das Buch lesen und die Ausstellung in der Spinnerei Turgi besuchen. Diese wurde inzwischen bis Samstag, 23. September, verlängert.