Wer es bisher versäumt hat, seinem politischen Willen für die Parlamentswahl am 22. Oktober Ausdruck zu verleihen, hat noch bis Sonntagvormittag Zeit, die Unterlagen in den Briefkasten der Wohngemeinde oder direkt in eine Wahlurne zu werfen. Beim Ausfüllen des Wahlzettels für die Ständerats- und Nationalratswahlen gilt es, einiges zu beachten. Und weder in allen Kantonen noch in jeder Gemeinde ist das Prozedere gleich ausgestaltet.
Ungewisse Anfänge
Die ersten modernen Wahlen der Schweiz im Oktober 1848 waren ziemlich improvisiert, weil es noch kein Wahlgesetz gab. Auch einen einheitlichen Termin gab es nicht. Die Tagsatzung wies die Kantone am 14. September 1848 lediglich an, die Wahlen «sofort» vorzunehmen. Was in diesem Fall «vor dem 6. November» bedeutete, weil dann die Bundesversammlung zum ersten Mal tagen sollte.
Damals durften über 20-jährige Schweizer Männer an den Wahlen teilnehmen, wobei es zahlreiche Ausschlussgründe wie beispielsweise Bedürftigkeit oder Konkurs gab. In den allermeisten Kantonen dominierte der Freisinn die politische Agenda, und bei den ersten nationalen Wahlen nahm die Partei auf Zeit und Ort der Wahlen Einfluss, um die Opposition möglichst fernzuhalten.
Die Bundesverfassung von 1848 sah vor, dass der Nationalrat aus den «Abgeordneten des schweizerischen Volkes» gebildet wird. Auf 20 000 «Seelen» sollte ein Mitglied gewählt werden. Der erste Nationalrat zählte somit 111 Mitglieder, wobei damals schon jeder Kanton oder Halbkanton mindestens ein Mitglied hatte. Heute zählt der Nationalrat 200 Mitglieder, der Ständerat hat 46. Gewählt wurde 1848 in 52 relativ willkürlich festgelegten Wahlkreisen. Einzelne Kantone begnügten sich mit dem relativen Mehr. Gewählt waren die Kandidaten mit den meisten Stimmen. Andere Kantone verlangten dagegen das absolute Mehr der Stimmen, sodass in 46 Wahlkreisen insgesamt 70 Wahlgänge nötig waren, um die Gewählten zu bestimmen.
Heutzutage muten viele Vorgänge am Anfang der modernen Schweizer Wahlen seltsam an. Der relative Anteil von Wahlberechtigten in der Bevölkerung hat sich seit 1848 stetig erweitert, und generell wird heute einiges dafür getan, dass möglichst viele Leute von ihrer Stimme Gebrauch machen. Bloss: Wesentlich übersichtlicher ist das Prozedere in den letzten 175 Jahren nicht geworden. Auch heute weist das Schweizer Wahlsystem zahlreiche Besonderheiten auf, die selbst eingefleischte Eidgenossinnen und Eidgenossen vor Rätsel stellen können. Bemerkenswert bei der Ausgestaltung der Proporzwahlregeln ist beispielsweise die den Wählerinnen und Wählern gewährte Freiheit, Kandidatinnen und Kandidaten zu streichen, doppelt aufzuschreiben (kumulieren) oder von anderen Parteilisten zu übernehmen (panaschieren). Damit wird die Macht der Parteien, durch ihre Listen Einfluss auf das Ergebnis der Wahl zu nehmen, verringert.
Wahlsysteme
Heute wird der Nationalrat in fast allen Kantonen im Proporzwahlverfahren gewählt, bei dem die Kandidatin oder der Kandidat gewinnt, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt. In Uri, Glarus, Obwalden, Nidwalden und den beiden Appenzeller Halbkantonen, die nur ein Mitglied in den Nationalrat entsenden, wird das Majorzsystem angewendet. Dort gewinnt, wer mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt. Im Proporzsystem sind die Wahllisten mit den Namen der Kandidatinnen und Kandidaten massgebend. Nach Abschluss der Wahl werden die Nationalratsmandate zunächst im Verhältnis zu den erhaltenen Stimmen den einzelnen Listen zugewiesen. Erst wenn feststeht, wie viele Mandate auf eine Liste fallen, werden die Sitze den Kandidatinnen und Kandidaten der Liste zugeteilt. Innerhalb der Liste werden diejenigen gewählt, welche die meisten Stimmen erhalten haben.
Die Ständeratswahlen hingegen werden in den meisten Kantonen nach dem Majorzsystem durchgeführt, und zwar in zwei Wahlgängen: Im ersten Wahlgang ist gewählt, wer das absolute Mehr erreicht. Verbleiben weitere zu vergebende Sitze, wird ein zweiter Wahlgang nötig. Die Kantone legen selbst fest, welche Voraussetzungen Personen erfüllen müssen, die zum zweiten Wahlgang antreten wollen. Im zweiten Wahlgang ist gewählt, wer die meisten Stimmen erhält. Nur in Neuenburg und im Jura werden auch die Mitglieder des Ständerats nach dem Proporzsystem gewählt.
Die «Unterlistenflut»
In der Schweiz setzen einige politische Parteien bei den Nationalratswahlen auf eine Strategie, die als «Unterlistentrick» bezeichnet wird. Dabei erstellen sie verschiedene Unterlisten, die spezifische Gruppen oder Themen abdecken, um eine breite Wählerbasis anzusprechen. Das Ziel dieser Taktik ist es, verschiedene Wählergruppen anzusprechen und die Chancen auf Sitze im Nationalrat zu erhöhen. Der Clou dabei: Alle Stimmen, die auf den Unterlisten gesammelt werden, kommen der Hauptliste der Partei zugute. Selbst wenn keine Kandidaten der Unterlisten gewählt werden, fliessen diese Stimmen in das Gesamtergebnis der jeweiligen Partei ein. Dieser Ansatz hat jedoch seine Herausforderungen. Für die Parteien bedeutet das, eine grosse Anzahl Kandidaten zu organisieren und zu verwalten. Allein im Aargau kandidieren dieses Jahr über 700 Personen auf über 40 Listen und Unterlisten für den Nationalrat. Zu vergeben sind aber lediglich 16 Sitze.