Vom schönen Leinwandzauber

Am 23. Oktober wird das Kino Orient 100 Jahre alt. Programmmacher Walter Ruggle beschreibt, was ihn am «Orient» so fasziniert.
Als Programmkino konnte sich das «Orient» bis heute behaupten. Programmleiter Walter Ruggle beschreibt, was ihn mit dem Kino verbindet. (Bild: zVg | Christine Zenz)

«Aufgewachsen bin ich in Zürich hinter dem Kino Roxy, aus dem ich als Kind Publikumsmassen strömen sah. 1932 gebaut, war es in den 1960er-Jahren eines der beliebtesten Italokinos. In lauschigen Sommernächten liess sich das ganze Dach öffnen und der Saal in ein Open Air verwandeln, Jahrzehnte bevor diese Veranstaltungsart Mode wurde. Meine ersten Kinoeindrücke waren also Menschen und Geräusche vom Balkon des Hauses gegenüber. Der Schulweg führte mich dann täglich vorbei am ‹Apollo›, einer Kinokathedrale mit 1800 Plätzen und der grössten Leinwand im Land. Ich wuchs sozusagen zwischen Kinos auf und liebte schon als Kind den Zauber der Leinwand. Ein Lichtstrahl auf eine weisse Fläche zu werfen, genügt, und wir sind anderswer in anderswo.

Dem Kino Orient begegnete ich erst später. Als Filmkritiker kannte ich viele Kinos der Schweiz, als Leiter der Stiftung Trigon-Film alle. Die Liebe hatte mich in die Region Baden verschlagen, und es war für mich beruhigend, dass es dank der Familie Sterk hier ein vorzügliches Filmleben gab. Ich publizierte über Filme und engagierte mich im ehemaligen Filmkreis Baden, der mit ‹Film am Sonntag› eine spezielle Programmreihe geschaffen hatte und sie in den letzten Jahren seiner Existenz im Kino Orient präsentierte. Der märchenhafte Name ebenso wie der Saal dieses Kinos mit seinen Stuckaturen künden noch heute vom Stolz und von der Atmosphäre der Gründerzeit. Die Anfänge des ‹Orients› lassen aber auch erkennen, wie die Stimmung in den 1920er-Jahren gegenüber der jungen Erfindung war: Bewegte Bilder waren eine Jahrmarktattraktion. Im katholischen Städtchen Baden war ein Kinoverbot verfügt worden, das ein schlauer Kaufmann zu umgehen verstand, indem er sein Kinohaus aufs erste Grundstück in Wettingen baute und am 23. Oktober 1923 mit dem Monumentalfilm ‹Das Weib des Pharao› von Ernst Lubitsch würdig eröffnen konnte.

Kino Orient

Um das «Orient» und im «Orient» hat sich in den letzten 100 Jahren einiges getan, und doch zeigt sich das Lichtspielhaus von der Zeit unbeeindruckt. (Bilder: zVg)

Kino Orient
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Das ‹Orient› zeigte während Jahren populäre Western, Gangster- und Actionfilme, was ihm den Beinamen ‹Revolverküche› bescherte. Er kursiert noch heute, dabei wurde das ‹Orient› neben dem ehemaligen ‹Royal› schon in den 1980er-Jahren von Peter Sterk als Arthousekino geführt. Als sich im Frühjahr 2002 abzeichnete, dass neben dem ‹Rio› in Wettingen und dem ‹Linde› in Baden auch das ‹Orient› geschlossen werden sollte, weil mit dem Trafo in Baden fünf neue Säle aufgingen, haben wir den Verein Kino Orient gegründet mit dem Ziel, das schmucke Kino mitten in Baden-Wettingen am Leben zu erhalten und mit neuem Konzept eigenständig als Programmkino zu betreiben. Seither hat sich das ‹Orient› dem freien Filmschaffen verschrieben und ergänzt das regionale Filmangebot mit sorgsam ausgesuchten Filmen, Klassikern, Ausgefallenem, mit Livemusik zu Stummfilmen, Kinderprogrammen und Seniorient, immer wieder mit Gästen, die zu Gesprächen anwesend sind und das Filmerlebnis vertiefen. Mehr als 1300 Mitglieder tragen dieses Kinojuwel und geniessen die Filme und die 2002 eingerichtete Kinobar.

Film ist eine Kunstform, die zwar nicht live dargeboten wird, aber doch im gemeinsamen Livegenuss ihre vollen Reize entfaltet. Gemeinsam zu lachen, zu heulen – oder beides – bewegt. Kinomachen bleibt ausserdem etwas Magisches: Man hat einen dunklen Raum. Mit einem Klick verzaubert man ihn und versetzt die Menschen in ihm in eine Illusion. Das kann eine mit viel technischem Aufwand umgesetzte Fantasiewelt sein, es kann aber auch eine mit einfacheren Mitteln inszenierte Reise für den Geist sein – im Idealfall erleuchtet der Projektor nicht nur die Leinwand. Das Kino ist ein Ort, an dem ich mich über die Wahrnehmung bewege und ein Stück innere oder äussere Welt erfahre oder beides zusammen. Das Geburtstagswochenende mag das eindrücklich vor Augen führen: vom britischen Pub über die estnische Sauna und den vom Film inspirierten französischen Briefträger bis nach Rom, wo sich altes und neues Filmemachen begegnen, und ins Berlin der 1920er-Jahre, wo das Ägypten der Pharaonen nachgebaut wurde.»

Das Kino Orient in Wettingen gehört zu den ältesten Lichtspielhäusern der Schweiz. Das 100-jährige Bestehen wird vom 20. bis 23. Oktober mit einem berauschenden Filmwochenende gefeiert. Zu geniessen sind insgesamt drei Vorpremieren, ein Familienfilm und jener Monumentalfilm, der am 23. Oktober 1923 zur Eröffnung gezeigt wurde, samt live Klavierbegleitung.

Weitere Informationen zum ganzen Programm sind online unter orientkino.ch zu finden.