Vanessa Reiss, vor Kurzem haben Sie als TCM-Therapeutin das eidgenössische Diplom erlangt – als Erste in Brugg. Was ist das für ein Gefühl?
Ich freue mich riesig über diesen Meilenstein und muss gleichzeitig sagen: Es steckt viel Arbeit dahinter. Neben meinem Praxisalltag nochmals alles Wissen präsent zu haben, Arbeiten zu schreiben und die Prüfungen zu absolvieren, war anspruchsvoll. Zugleich hat es sich gelohnt: Ich bin nun mit meiner Arbeit im Bereich der Alternativmedizin eidgenössisch anerkannt. Diese Anerkennung meines therapeutischen Schaffens bedeutet mir viel, ausserdem ist sie nicht nur gegenüber meinen Patientinnen und Patienten, sondern auch im Umgang mit den Ärzten und Krankenkassen ein wichtiges Qualitätslabel.
Sie bieten ja nicht nur TCM an, sondern ebenfalls Hypnose. Wie passt das zusammen?
Gerade für Patientinnen und Patienten, die nicht nur körperliche Beschwerden haben, sondern auch psychische, biete ich zusätzlich Hypnose an. Insbesondere bei Leiden wie Depressionen oder Angststörungen mache ich damit gute Erfahrungen. Mit Hypnose kommt man oft schneller zum Ziel, weil man direkt bei der Ursache ansetzen und die Abwehrmechanismen etwas umgehen kann. Es ist eine klassische Kurzzeittherapie, bei der in der Regel ein bis zwei Sitzungen genügen, um einen Fortschritt zu erreichen.
Wie sind Sie als Europäerin auf TCM gekommen?
Während meines Studiums der Gesellschaftswissenschaften in Fribourg brauchte ich eine Pause. Ich ging nach Teneriffa, wo ich in einem Yogastudio quasi Mädchen für alles war. Nebst meinem Einsatz im Marketing und in der Buchhaltung durfte ich einem chinesischen Meister assistieren. Ein glücklicher Zufall, der mich nachhaltig beeindruckt hat. Er verband die Kraft des Kampfsports mit seinem grossen Wissen in TCM und behandelte seine Patientinnen und Patienten mit einer unglaublichen Wertschätzung und Eleganz – jede Sitzung war wie eine Zeremonie. Da machte es bei mir «Bam»! Als ich zurückkehrte, brach ich mein Studium ab, meldete mich bei einer Schule in Deutschland und sagte, ich wolle TCM-Therapeutin werden. Das gehe nur auf Basis der Heilpraktikerinnenausbildung, erhielt ich die Auskunft. Und so absolvierte ich zwei Ausbildungen in Folge.
Arbeiten Sie heute ebenso stilvoll wie Ihr ehemaliger Meister?
Ich gebe mein Bestes (lacht). Jedenfalls mache ich auch Qigong wie er, diese Kombination ist meines Erachtens Gold wert und führt dazu, dass ich mich gut fokussieren kann. Arbeite ich mit meinen Patientinnen und Patienten, kann die Welt draussen untergehen, ich bekomme das nicht mit. Ich konzentriere mich auf den Moment, auf jede Bewegung und jede Akupunkturnadel. Diese Ruhe zu vermitteln, ist ein wichtiger Teil der Behandlung. Viele Menschen kommen in einem so gestressten Zustand zu mir, dass sie erst einmal herunterfahren müssen.
Ist Stresss eine der Hauptursachen für viele Erkrankungen?
Definitiv. Die Menschen fühlen sich überfordert und ausgeliefert, müssen funktionieren und erfolgreich sein. Dieses «Ich muss, ich muss» ist omnipräsent.
Wo setzen Sie hier an?
Ich zeige den Menschen, wie sich Entspannung anfühlt, wie sie auf den Körper wirkt, was das mit einem macht. Das hilft ihnen, selbst auf den Geschmack zu kommen, entsprechende Massnahmen zu ergreifen und zu realisieren: Mir geht es besser, wenn ich mir Zeit für mich nehme, auch wenn das erst einmal nur eine Stunde pro Woche ist. Tritt dieser Prozess in Kraft, wird es einfacher, für sich einzustehen und zu sagen: Nein, das ist mir zu viel.
Der Körper ist in Ihrer Praxis zentral. Lernt man bei Ihnen, ihn wieder zu spüren und auf ihn zu hören?
Wenn wir vom Körper abgespalten sind, fällt es uns schwer, uns zu orientieren. Wir leben mit einem Filter, der uns zugegebenermassen schützt. Das fühlt sich dann an, als würde man jemandem eine Schale mit Gold hinstellen – und er sieht sie gar nicht. So kann das Leben nicht mehr fliessen, man steht sich selbst im Weg. Oft zeigt sich die Veränderung in kleinen Schritten. Setze ich eine Akupunkturnadel an, merkt man am Anfang einfach einen kleinen Schmerz. Erst danach spürt man beispielsweise ein Kribbeln oder Wärme – ein sicheres Zeichen dafür, dass die Körperwahrnehmung erweitert ist. An dieser Stelle beginnen die Patientinnen und Patienten zu forschen, zu entdecken. Und das wiederum fördert die Verbindung zum Körper, das Vertrauen in diesen und damit den Heilungsprozess.
Eine Nadel zu stechen, mutet uns Europäer ja etwas seltsam an.
Ich führe mit dem Patienten zuerst ein Gespräch, schaue ihn ganzheitlich an, unter anderem auch mittels Puls- und Zungendiagnostik. Dann erst wähle ich die Akupunkturpunkte aus, die ich steche – ganz gezielt. Ich beobachte die Reaktion und entscheide über den weiteren Prozess. Das Ziel meiner Akupunkturbehandlungen ist, wieder ein Gleichgewicht im Energiefluss herzustellen.
Wie gelingt das?
Jeder Akupunkturpunkt hat eine bestimmte Aufgabe und Wirkung, oft wähle ich Punktekombinationen, die sich in bestimmten Fällen bewährt haben. Durch die Nadeln kann ich einen Punkt tonisieren, also Energie hineingeben, oder ihn sedieren, also Energie ableiten. In der TCM geht es immer um ein ideales Zusammenspiel im Körper, um Harmonie. Man schwächt auf der einen und stärkt auf der anderen Seite. Damit tankt der Körper wieder Kraft, um sich selbst zu heilen.
Was, wenn jemand Angst vor Nadeln hat?
Dann wähle ich andere Ansätze wie Akupressur, chinesiche Kräuter, Tuina-Massage, Schröpfen – oder ich zeige eine Qigong-Übung. Man hat in der TCM so viele Möglichkeiten, bei der Behandlung anzusetzen.
Verliert man da nicht den Überblick?
Im Gegenteil! Mich fasziniert diese Vielfalt, die man individuell auf den Patienten abstimmen kann. Funktioniert eine Methode nicht, hilft vielleicht eine andere.
Das klingt nach Detektivarbeit.
Das ist ja gerade das Tolle an der Komplementärtherapie. Kein Mensch ist gleich, kein Körper funktioniert genau wie ein anderer. Es sind individuelle Lösungswege gefragt, die zuweilen mich selbst überraschen.
Steht das nicht konträt zur Schulmedizin?
Es ist ein anderer Ansatz, ganz klar. Ich arbeite aber Hand in Hand mit der Schulmedizin. Die Methoden ergänzen sich. Einen Beinbruch kann ich mit TCM definitiv nicht heilen.