Mit Stahl gegen Mobbing

Der Berliner Carsten Stahl führte durch einen «Tag der Gemeinschaft für Respekt und Toleranz» an der Schule Untersiggenthal.
Mit einem Armband unterstreichen die Beteiligten ihr Bekenntnis. (Bild: zVg)

Es herrscht absolute Stille im Sickinga-Saal an diesem Mittwochabend, 8. November. Gerade hat Carsten Stahl (51) die Geschichte eines kleinen Jungen erzählt, der von einer Gruppe älterer Schüler nach ­monatelangem Mobbing und Angstmachen in eine drei Meter tiefe Grube gejagt wurde und sich dabei schwerste Verletzungen zuzog. «Sie standen über diesem kleinen Jungen, lachten und pinkelten auf ihn herab – und liessen ihn hilflos in der Kälte des herbstlichen Abends liegen», schildert der Berliner, der auf Einladung der Schulleitung im Rahmen eines «Tags der Gemeinschaft für Toleranz und Respekt» nach Untersiggenthal gekommen ist. «Dieser Junge hatte ihnen nichts getan. Und dieser Junge war … ich!»

Mitlacher und Weggucker
Sieht man Carsten Stahl heute auf der Bühne stehen – gross, muskulös, selbstbewusst und charismatisch –, kann man sich die von ihm beschriebene Szene kaum vorstellen. Aber es ist diese Geschichte, welche die Kinder und Jugendlichen der Mittel- und Oberstufe am meisten beeindruckt. Noch kurz zuvor haben die Kinder unter Johlen und Klatschen die schlimmsten Schimpfwörter nach vorn gerufen, die sie kannten. Dazu hatte Stahl sie aufgefordert: «Ich wollte mir ein Bild der Ist-Situation verschaffen», berichtet der Anti-Mobbing-Coach den Eltern.

Schlimm sei nicht, dass die Kinder die Wörter kennen würden – dass sie darüber lachten, sei das Problem. «Denn das ist der Anfang von Mobbing. Nicht die Mobber sind das Pro­blem. Es sind die Mitmacher, Mitlacher und Weggucker.» Nach der Geschichte des kleinen Jungen sei der Groschen denn auch gefallen, wie Stahl erzählt.

Darin liegt die Kunst von Carsten Stahl: Er rüttelt auf, schockiert, weckt Emotionen – und macht es so möglich, dass Empathie und Nächstenliebe wieder wach werden. Die Schule Untersiggenthal habe Carsten Stahl für den Präventionsanlass eingeladen, weil er einen anderen pädagogischen Ansatz habe, erklärt Gesamtschulleiterin Silvia Mallien: «Viele Jugend­liche kennen ihn und sind von seiner Geschichte und Persönlichkeit fasziniert. Er kommuniziert mit den Jugendlichen auf Augenhöhe und nutzt ihre Sprache.»

Der mit Carsten Stahl durchgeführte Tag der Gemeinschaft sei Teil einer Reihe von Sensibilisierungs- und Aufklärungsmassnahmen, welche die Schule treffe, um eine Atmosphäre des Respekts und der Wertschätzung zu schaffen, führt Mallien weiter aus. «Die Schule Untersiggenthal ist keine Krisenschule. Aber wir setzen uns mit Nachdruck dafür ein, dass Gewalt bei uns keinen Platz hat.»

Stahl ist kein Mann der leisen Töne («Mit dieser Stimme kann ich nicht ruhig sein, das wäre Perlen vor die Säue werfen»), und seine Wortwahl ist ungewohnt scharf. Er nahm auch die Eltern deutlich in die Pflicht. Mobbing ist in seinen Worten ein «Serienkiller» und das Mobiltelefon eine Waffe, welche die Eltern den Kindern in die Hand ge­geben hätten. «Wir kaufen ihnen diese Waffe und lassen sie ins grosse, weite Internet, wo sie ohne jegliche Kon­trolle alle erdenklichen Inhalte konsumieren können.»

Setzen ein Zeichen: Die Untersiggenthaler Schulklassen mit Carsten Stahl (im rosa Pulli rechts). (Bild: mpm)

Kein Mann der leisen Töne
Stahl forderte die Eltern auf: «Kon­trolliert, was eure Kinder im Internet machen! Schaut, dass ihr wisst, wo sie sich abends aufhalten! Setzt ihnen Grenzen, diskutiert mit ihnen!» Beklemmung ist zu spüren, als der Berliner den Eltern mitteilt, dass einige Kinder und Jugendliche am Morgen per Handaufheben zugegeben hätten, bereits einmal an Selbstmord gedacht zu haben – wegen Beleidigung, Häme oder Ausgrenzung.

Seinen Kampf gegen Mobbing und für den Kinderschutz begründet Stahl mit einer simplen Aussage: «Ich bin Vater.» Er wuchs in Berlin-Neukölln auf, einem der schlimmsten Stadtteile Berlins, wie er selbst sagt. Als Reaktion auf seine eigenen Erlebnisse begann er als Jugendlicher mit Krafttraining und Kampfsport – und mobbte sogar selbst, worauf er nicht stolz sei. Er arbeitete zunächst als Türsteher und Personenschützer, ehe er als Schauspieler der Serie «Privatdetektive im Einsatz» von RTL 2 bekannt wurde.

Als sein fünfjähriger Sohn am Tag nach der Einschulung zusammengeschlagen wird und aus Angst nicht mehr in die Schule will, entscheidet sich Stahl, die Arbeit als Schauspieler an den Nagel zu hängen und seine Zeit fortan dem Kampf gegen Mobbing zu widmen. Die Schule Untersiggenthal ist die erste Schweizer Schule, die beim «Camp Stahl» mitmacht. Es soll ein nachhaltiges Erlebnis bleiben: Am Ende des Schulanlasses unterzeichneten die Schüler und Schülerinnen ein Plakat, um ihrem Willen Ausdruck zu verleihen, Mobbing keine Chance zu geben.