«Die Minsk-Revolution war fatal»

Aufschlussreicher Abschluss einer Vortragsserie an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Der belarussische Autor Artur Klinau begründete, warum er Europas Begeisterung über die Freiheitsproteste 2020 in Minsk nicht teilt.
Abschluss einer hochaktuellen Vortragsserie an der Hochschule für Wirtschaft in der FHNW. Artur Klinau, belarussischer Autor; Irina Herasimovich, Übersetzerin; Professor Andreas Petersen, Moderator. (Bild: hpw)

Nach der gefälschten Wiederwahl des belarussischen Langzeitherrschers Alexander Lukaschenko gingen im ­August 2020 in der Hauptstadt Minsk eine Million Menschen auf die Strasse. Es war eine Revolution – nicht die erste in der Geschichte des osteuropäischen Landes mit etwas über neun Millionen Einwohnern, aber die folgenschwerste. Europa wertete die Kundgebung als hoffnungsvollen demokratischen Aufbruch. Doch der 58-jährige belarussische Autor und Architekt Artur Klinau, ein Gegner Lukaschenkos, teilt diese Begeisterung nicht. Er begründete seine Haltung zum Abschluss des dreiteiligen hochaktuellen Forums «Russland, Ukraine, Belarus» an der Hochschule für Wirtschaft im FHNW-Campus Brugg-Windisch vor viel Publikum.

Vielfältig, widersprüchlich
Zur dichten und didaktisch hervor­ragenden Analyse über den Zustand Belarus’ trug auch die 1978 in Minsk geborene Übersetzerin und Dramaturgin Iryna Herasimovich, Doktorandin am Slawischen Seminar der Universität Zürich, bei. Sie sagte, ihr Land biete ein vielfältiges, aber auch widersprüchliches Bild: «In Belarus kannst du dem, was du siehst, nie glauben – du musst nochmals hinschauen, denn die Oberfläche stimmt oft nicht mit dem Darunter überein.» Trotz abwechslungsreichen Landschaften, einer kontrastreichen Hauptstadt und authentischen Kultur ist es ein wenig bereistes Land. Das hängt mit der Repression und Abschottung zusammen. Seit dem Massenprotest vor drei Jahren habe die staatliche Härte enorm zugenommen und ein Ende sei nicht in Sicht, berichtete Iryna Herasimovich. Es herrsche Willkür. Eine Gewaltenteilung gebe es nicht mehr. Das Abschreckungssystem sei unberechenbar und kräftezehrend. Zehntausende stecken in Haft, Hunderttausende gingen ins Exil. Dennoch sei Belarus kein totes Land. Es befinde sich aber quasi in russischer Geiselhaft. Allerdings tue sich der Westen schwer mit der Einschätzung der Situation. Umso mehr schätzten sie es, betonten die beiden Zeitzeugen, die komplexen Sachverhalte an dieser FHNW-Veranstaltung darlegen zu können.

Fehleinschätzungen Europas
Artur Klinau, der unter anderem das Buch «Acht Tage Revolution» verfasste, beleuchtete die Minsker Proteste von 2020, die weltweit Schlagzeilen gemacht hatten, aus einer aussergewöhnlichen Perspektive. Dahinter habe der Kreml gesteckt, erklärte er, obschon eine Million Menschen an den Nutzen ihres Aufstands glaubten. Russland hingegen habe damit Verunsicherung streuen und einen sich anbahnenden Liberalisierungsprozess in Belarus umkehren wollen. Diese Rechnung ging auf: Das Lukaschenko-­Regime habe mit Staatsterror reagiert und die Revolution für die Bevölkerung zum Fiasko gemacht. Jetzt werde die Zivilgesellschaft zerstört. Neben dem falsch eingeschätzten Revolutionsverlauf habe sich Europa auch in der Wirkung seiner gegen Belarus verhängten Sanktionen getäuscht. Denn diese Massnahmen hätten Lukaschenko nicht zur Lockerung seiner Repressionspolitik gezwungen, sondern ihn von Russland noch abhängiger gemacht. Zudem sähen viele Europäer Belarus als Mittäter im Ukrainekrieg, aber in Wirklichkeit sei es ein Opfer: «In Belarus ist niemand an diesem Krieg interessiert», betonte Klinau. Immerhin sinke die Wahrscheinlichkeit, dass die belarussische Armee in das Kriegsgeschehen eingreife. Vielleicht deshalb, weil sich Lukaschenko durch seine Avancen zu China den «russischen Bären» etwas vom Leib zu halten vermöge.

Umgang wie mit einem Raubtier
Die Beziehung des belarussischen Präsidenten zu Wladimir Putin sei wie die Begegnung mit einem Raubtier, meinte Artur Klinau: Anstatt schnelle Be­wegungen seien bedächtige Positionsänderungen empfehlenswerter. Der Weg­ für nachhaltige Änderungen sei Evolution, nicht Revolution. Dazu gehöre der Dialog. Belarus’ schrittweise Fortbewegung vom Kreml sowie der Stopp des Terrors und die Befreiung der politischen Gefangenen werde nur möglich, wenn man mit der Regierung Lukaschenko Gespräche führe, so ­widerlich das europäischen Politikern erscheinen möge. Selbst das Regime in Minsk wäre daran interessiert. In der Diskussion wurde Artur Klinau gefragt, was die grossen europäischen Institutionen zur Stärkung von Belarus’ Autonomie verpassten. Seine Antwort: «Sie haben die Unterschiede zwischen Russland und Belarus zu spät, wenn überhaupt, wahrgenommen».

Belarus zu erhalten und zu verhindern, dass es Teil Russlands werde, sei aber wichtig, betonte der kompetente Referent. Denn sein Land umfasse ein strategisch wichtiges Gebiet zwischen Litauen im Norden, der Ukraine im Süden und Polen im Westen: «Verliert Belarus seine Unabhängigkeit, stehen russische Panzer 30 Kilometer von Vilnus und 180 Kilometer von Warschau entfernt». – Damit schloss die dreiteilige Vortragsserie «Russland, Ukraine, Belarus» von Campus Global Brugg, einem seit zehn Jahren bestehenden Forum für Zeitzeugen an der Fachhochschule Brugg-Windisch.