Gusshandwerk von Avignon bis Zürich

Der pensionierte Würenlinger Bezirkslehrer Lukas Müller beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Kulturgeschichte von Dolendeckeln.
Der Würenlinger Lukas Müller sammelt und dokumentiert Dolendeckel aus aller Welt. Aus dem Hobby wurde inzwischen ein lebendiger Verein. Hier in seiner Garage in Würenlingen. (Bild: chr)

Es war einmal ein junger Lehrer, der auf seinen Reisen oft eine Kamera dabeihatte und gern Erinnerungsfotos machte. Als er eines Morgens in Avignon zu früh dran war und auf die Öffnung des Papstpalastes wartete, schaute er sich um. Er entdeckte einen schönen Schachtdeckel oder – wie man in Frankreich sagt – «Plaque d’égout» mit der Aufschrift «Ville d’Avignon».

Die Aufnahme wurde zum Einstiegsbild für die Diashow, die er daheim Verwandten und Freunden zeigte. Das war der Anfang einer Leidenschaft, die bis heute andauert. Lukas Müller, inzwischen längst pensioniert, hat sich seither immer wieder Dolendeckel angesehen, sie fotografiert, Nachforschungen zu ihnen angestellt und das eine oder andere Stück vor der Verschrottung bewahrt.

Im Laufe der Zeit traf er auf Gleichgesinnte, mit denen er später einen Verein gründete, der sich für den Schutz und den Erhalt der (mehrheitlich) gusseisernen Kunstwerke einsetzt. «Einst hatte jede grössere Schweizer Stadt ihre eigene Giesserei», weiss Lukas Müller. Bei Strassensanierungen komme heute meist industriell hergestellte Massenware zum Einsatz, und die Schweizer Produzenten kämpften um ihr Überleben, erklärt er.

Frottagen statt Mathematik
Bis etwa im Jahr 2000 war der heute 79-Jährige als «Solo-Dolologe» unterwegs, wie er sagt. Dann lud ihn ein Bekannter, der mittlerweile verstorbene Zürcher Künstler Hannes Bossert, zu einer Ausstellung von Frottagen in Wetzikon ZH ein. Frottage (vom französischen «frotter», was «reiben» bedeutet) ist ein grafisches Verfahren, bei dem Papier auf einen prägenden Untergrund gedrückt wird, um dessen Struktur sichtbar zu machen. Eine Technik, die bei Dolendeckel einfach anzuwenden ist. «Es ist eigentlich kinderleicht», sagt Lukas Müller, dem manchmal auch die Enkel dabei geholfen haben, mit Holzkohlestiften das Relief abzubilden. Mit einem Spray wird danach der Kohleabrieb dauerhaft auf dem Papier fixiert.

Nachdem Lukas Müller als Bezirkslehrer mit Hauptfach Mathematik an der Bezirksschule Endingen in Pension gegangen war, gehörten er und Bossert 2008 zu den Mitgründern des Vereins Dolologie. Ein Begriff, den es zuvor nicht gegeben hat und der von den Dolologen, so ihre Eigenbezeichnung, mit einem Augenzwinkern verwendet wird. Die derzeit rund 25 Vereinsmitglieder leben über die halbe Deutschschweiz verteilt, sind mehrheitlich Männer und haben, vom Velomechaniker bis zum Akademiker, ganz verschiedene Hintergründe.

Souvenir aus Südamerika: In seinem Hauseingang daheim in Würenlingen hat Lukas Müller das Foto eines Dolendeckels aus der bolivianischen Hauptstadt La Paz aufgehängt. (Bild: zVg)

Mister Glückskette war Dolologe
Das bisher wohl prominenteste Mitglied des Vereins war der vor zwei Jahren verstorbene Roland Jeanneret, Journalist und «Mister Glückskette». Was nur wenigen bekannt ist: Jeanneret war auch Dolologe, der die Vereinskollegen einmal zu einer Exkursion in den Berner «Untergrund» führte. Eindrücklich ist, dass der Verein und Lukas Müller – der bis 2017 Präsident war – immer wieder in verschiedenen Medien präsent sind. Und zwar nicht nur in regionalen Blättern, sondern ganz gross im «Migros-Magazin», in der «Neuen Zürcher Zeitung», im «Tages-Anzeiger» oder im Schweizer Radio. Der Deutschlandfunk titelte «Kanaldeckel – das Gulliversum zu unseren Füssen», und sogar das Schweizer «Baublatt» widmete dem Thema drei Magazinseiten mit Bildern. «Und jedes Mal habe ich viele Rückmeldungen erhalten», sagt Lukas Müller mit Freude, dessen dolologische Fotosammlung inzwischen über 20 000 Bilder umfasst, darunter Dolendeckel von Avignon bis Zürich und von New York bis La Paz. Gerade heute, wo eigentlich jeder und jede ein Smartphone mit sich führt, gelangen Bilder von Dolendeckeln aus vielen Ecken der Welt schnell und einfach zu dem interessierten Sammler.

Ausserdem ist Lukas Müller selbst viel herumgekommen. «Ich bin zwar nie den Dolendeckeln nachgereist, aber wenn ich irgendwo bin, schaue ich natürlich genauer hin.» Als er kürzlich seiner Coiffeuse davon erzählt habe, dass er Ende November für den Kulturkreis Würenlingen einen Vortrag zu diesem Thema halten werde, habe diese gelacht und gemeint, es sei schon lustig, dass ausgerechnet er als über 1,90 Meter grosser Mann auf dieses Hobby gekommen sei.