Ortsbürger: Kein Grund zum Dünkel

Sind Ortsbürger «Mehrbessere»? Nein. Sie sollen ihrem Dorf, ihrer Stadt besonders verbunden sein. Das ist kein Grund zur Einbildung.
«En famille»: An der Brugger Ortsbürgergemeindeversammlung letzte Woche nahmen 38 von 364 stimmberechtigten Ortsbürgerinnen und Ortsbürgern teil. Sie genehmigten die Anträge des Stadtrats einstimmig. (Bild: hpw)

Immer wieder wird darüber diskutiert – so kürzlich unter aargauischen Ortsbürgern im Salzhaus in Brugg –, ob Ortsbürgergemeinden nötig oder ein alter Zopf sind. Was bedeutet es, Ortsbürger zu sein? Das zusätzliche Bürgerrecht hat vor allem einen kulturellen Hintergrund: Es drückt Heimatgefühl, eine besondere Verbundenheit zu einem bestimmten Ort aus. Schweizerinnen und Schweizer haben drei Bürgerrechte: ein Gemeinde-, ein Kantons- und das Schweizer Bürgerrecht. Der Aargau und 13 weitere Kantone kennen zudem das Ortsbürgerrecht. Aber nicht jede Aargauerin und jeder Aargauer besitzt es. Die Ortsbürgergemeinden sind zwar wie die politischen Einwohnergemeinden öffentliche Körperschaften, jedoch keine zwingende Institution. In den 198 selbstständigen Aargauer Gemeinden existieren nur noch 169 Ortsbürgergemeinden. Von ihnen gehören 148 dem Ortsbürgerverband Aargau an.

Tendenz zur Auflösung
Viele Ortsbürgergemeinden haben sich wegen schmaler existenzieller Mittel oder mangels konkreter Aufgaben aufgelöst. Etliche sind im Zuge von Gemeindeverschmelzungen verschwunden – gerade im Bezirk Brugg, wo in den letzten 50 Jahren 18 Einwohnergemeinden in Fusionen involviert waren und ihre Zahl von 32 auf 20 zurückging. So wurden zum Beispiel 2013 beim Zusammenschluss der vier Gemeinden Oberbözberg, Unterbözberg, Gallenkirch und Linn zur neuen Gesamtgemeinde Bözberg die Ortsbürgergemeinden zusammengelegt. Als 2014 die Einwohnergemeinden Schinznach-Dorf und Oberflachs fusionierten, wurde die Ortsbürgergemeinde Oberflachs aufgelöst, weil es in Schinznach kein Pendant mehr gab – dort war sie schon vorher abgeschafft worden.

Die Ortsbürgergemeinden sind mit dem Hoheitsgebiet der Einwohnergemeinden identisch und tragen deren Namen. Der von der Einwohnergemeinde gewählte Gemeinderat ist auch die Verwaltungs- und Vollzugsbehörde der Ortsbürgergemeinde. Die Strukturen sind jedoch unterschiedlich, wie sich an einem Feierabend­gespräch des Ortsbürger-Kantonalverbands in Brugg zeigte. Es gibt
Gemeinden mit und ohne beratende Ortsbürgerkommission sowie mit und ohne eigene Finanzkommission (Fiko). Zum Teil ist die Finanzkontrolle an die Fiko der Einwohnergemeinde delegiert. Oberstes Organ ist aber überall die Ortsbürgergemeindeversammlung. Einwohnerräte gibt es bei den Ortsbürgern nicht, ebenfalls keinen Finanzausgleich unter den Ortsbürgergemeinden. 

Abschaffung des Bürgernutzens
Im Laufe der Zeit wandelte sich die Organisation der Gemeinden. Ursprünglich gab es pro Ortschaft ein Gemeinwesen. Es besass die Eigentumsrechte am Gemeindeland. Bedeutsam war die Übertragung der kirchlichen Armenpflege an die Gemeinden. Zu deren Entlastung schuf die Helvetische Republik für kurze Zeit zusätzlich die Munizipalgemeinde. Doch der neue Kanton Aargau kehrte 1803 wieder zu den Ortsbürgergemeinden als Universalgemeinden zurück. Allerdings sahen sich vor allem Kleingemeinden von den wachsenden Aufgaben überfordert. Deshalb stellte der Kanton 1841 den Ortsbürgergemeinden die Einwohnergemeinden zur Seite. 1936 ging ausserdem die Armenfürsorge an die Einwohnergemeinden über.

Die Finanzstrategie der beiden Gemeinden unterscheidet sich insofern, als die Ortsbürgergemeinden – die keine Steuern beziehen – möglichst Kapital bilden sollen, wogegen die Einwohnergemeinden den Steuerfuss senken sollen, wenn genug Geld zur Erfüllung der laufenden Aufgaben vorhanden ist. Den Ortsbürgergemeinden obliegt heutzutage im Wesentlichen die Erhaltung und die gute Verwaltung ihres Vermögens. Sofern dessen Erträge ausreichen, können sie das soziale und kulturelle Leben fördern sowie die Einwohnergemeinde unterstützen. Die Vermögens- und Ertragslage der Ortsbürgergemeinden ist verschieden. Alle, auch die gut situierten, dürfen generell keine Geld- und Naturalgaben mehr an die einzelnen Ortsbürger ausrichten. Der frühere Bürgernutzen («Bürgerknebel») wurde 1978 mit dem neuen Ortsbürgergesetz abgeschafft. Wird eine Ortsbürgergemeinde aufgelöst, fallen deren Mittel nicht ihren Mitgliedern, sondern der zuständigen Einwohnergemeinde zu.

Ortsbürger als Kirchenbesitzer
Die Gemeinden besitzen am meisten Wald im Aargau. Ihnen gehören 35 000 Hektaren der 49 000 Hek­taren grossen Gesamtfläche. Der grösste Teil ist im Besitz der Ortsbürgergemeinden. Jahrzehntelang war die Forstwirtschaft die ergiebigste Ertragsquelle der Ortsbürger. Aus den guten Zeiten stammen etliche Waldhütten für gesellige Anlässe. Mittlerweile sind die Holzerlöse und Bewirtschaftungskosten auseinandergedriftet. Forstrechnungen rutschten in die roten Zahlen. Einige Ortsbürgergemeinden deklarierten Waldflächen zu Altholzinseln, verzichteten auf die Nutzung und bekamen dafür Abgeltungen. Einen anderen Weg ging der nach wie vor rentierende Forstbetrieb der Ortsbürgergemeinde Brugg. Er vergrösserte seinen Wirkungskreis, indem er neben der Betreuung des eigenen 614 Hektaren grossen Waldbesitzes zusätzlich die Beförsterung für die Gemeinden Bözberg, Riniken, Villnachern und Birmenstorf – eine insgesamt 1800 Hektaren grosse Waldfläche – übernahm.

Ortsbürgergut besteht zudem aus Grundstücken, Landreserven, Immobilien, Stiftungen/Legaten und Fonds. Die Ortsbürgergemeinde Brugg besitzt mehrere zum Teil denkmalwürdige Liegenschaften und ein Nettovermögen von 14,1 Millionen Franken. In Villigen spülte ein Vertrag mit dem Zementkonzern Holcim für die Erweiterung des Steinbruchs Gabenchopf den Ortsbürgern 9 Millionen Franken in die Kasse. Sie restaurierten aus den Kapitalerträgen die Alte Trotte. Ihnen gehören überdies 9 Hektaren Rebland, die sie einheimischen Winzern zinslos überlassen, sowie die Parzelle, auf der die idyllische Badi steht. Darüber hinaus ist die Villiger Ortsbürgergemeinde Eigentümerin des 1347 erstmals urkundlich erwähnten und besonders für Trauungen beliebten Kirchleins im Dorf. Übrigens befindet sich auch die Remiger Kirche im Besitz der dortigen Ortsbürgergemeinde.

Interesse hält sich in Grenzen
Das kulturelle und soziale Engagement der Ortsbürgergemeinden hängt von deren Mitteln ab. Die Brugger Ortsbürger tragen mit 150 000 Franken Jahresaufwand das Stadt­museum und unterstützen mit 5000 Franken die Herausgabe der «Brugger Neujahrsblätter».

Andere Ortsbürgergemeinden finanzieren Altersausfahrten, Waldumgänge, Neujahrsapéros sowie altes Brauchtum, zum Beispiel das Sami­chlausen in Hausen. Das ortsbürgerliche Wirken ist unspektakulär. Deshalb hält sich die Beteiligung an den Ortsbürgergemeindeversammlungen meistens in Grenzen. In Habsburg kam es beispielsweise vor, dass die Versammlung mit einer einzigen und kurz vor Beginn aufgebotenen stimmberechtigten Bürgerin – es war die Gattin des damaligen Ammanns – durchgeführt wurde.

Den Ortsbürgern und Ortsbürgerinnen ist bewusst, dass sie zum «Auslaufmodell» werden, wenn der Nachwuchs fehlt und ausbleibt. Viele Ortsbürgergemeinden laden deshalb Einwohnerinnen und Einwohner ihrer Ortschaften zum Erwerb des Ortsbürgerrechts ein. Für Schweizerinnen und Schweizer, die sich beispielsweise in Villnachern einbürgern wollen, gilt Folgendes: Wer drei Jahre in Vill­nachern wohnt, kann eingebürgert werden, und wer zehn Jahre im Dorf lebt, hat sogar Anspruch auf die Einbürgerung. Es wäre kein Einsitz in ein Armenhaus, denn die Ortsbürger von Villnachern haben noch einiges auf der Kante. Das könnte eine nette Brautgabe bei einer Fusion mit Brugg sein. Derweil ist man in Windisch optimistisch: Hier traten vor einem Jahr sechs Einwohner zu den Ortsbürgern über.