50 Jahre Einwohnerrat – was jetzt?

Vor 50 Jahren wechselte Windisch von der «Gmeind» zum Einwohnerrat. Das bot Anlass zu einem positiv-selbstkritischen Rückblick.
Das 50-jährige Bestehen des Windischer Einwohnerrates feierten auch die amtierende Gemeindepräsidentin Heidi Ammon (rechts) und Regierungsrat Dieter Egli (Mitte), einst selber Mitglieder des Gemeindeparlaments. (Bild: hpw)

Zum Abschluss des zweijährigen Amtszyklus und dem damit verbundenen Präsidiumswechsel trafen sich die Mitglieder des Einwohnerrates Windisch zusammen mit ehemaligen Ratspräsidenten sowie amtierenden und früheren Gemeinderäten in der Cantina der Faro-Stiftung im Süssbachareal zu einem Umtrunk, bei dem auch auf das 50-jährige Bestehen des Gemeindeparlaments angestossen wurde. Der Wechsel von der Gemeindeversammlung zum 40-köpfigen Einwohnerrat im Jahr 1973/74 sei ein mutiger, aber auch erfolgreicher Schritt gewesen, bilanzierte der abtretende Einwohnerratspräsident Philipp Umbricht (FDP).

Gemeindepräsidentin Heidi Ammon attestierte dem Plenum eine lebhafte Debattierlust. Sie mahnte jedoch, die Konsensbereitschaft im schärferen politischen Diskurs nicht aus den Augen zu verlieren. Auch der scheidende Ratssekretär, Gemeindeschreiber Stefan Wagner, thematisierte die zunehmende Polarisierung und empfahl den Ratsmitgliedern: «Redet wieder mehr direkt miteinander und verkehrt weniger per E-Mails». Wagner geht demnächst nach 38 Dienstjahren und 207 Einwohnerratssitzungen, die er alle bis auf zwei protokollierte, in Pension. Seine Verdienste wurden mit langem Beifall verdankt.

Euphorie und Desinteresse
Zwischen 1966 und 1973 führten 15 Aargauer Gemeinden Einwohnerräte ein. Brugg gehörte zur ersten, Windisch zur späteren Gruppe. Fünf Orte kehrten jedoch nach abgekühlter Euphorie wieder zur Gemeindeversammlung zurück. Auch in Windisch wurde dieser Schritt zweimal erwogen: 1992 lehnte der Einwohnerrat die von einem Einwohner geforderte Abschaffung mit 33 zu 3 Stimmen ab, und 2014 verlief ein Anlauf der SVP – ausgelöst durch mühsam gewordene Kandidatenrekrutierung – im Sand. Von den zehn Gemeinden, die noch einen Einwohnerrat besitzen, ist Windisch die kleinste Ortschaft.

Wie kam es zur Einführung der Gemeindeparlamente? Bis 1971 herrschte im Aargau Stimmzwang: Wer unentschuldigt an Abstimmungen und Gemeindeversammlungen fehlte, wurde mit 2 bis 5 Franken gebüsst. Als in den 1960-er Jahren grosse Jahrgänge stimmfähig wurden, entstanden Platzprobleme. So musste Wettingen die Gemeindeversammlung in zwei Räumen abhalten. Durch die Einführung des Frauenstimmrechts verdoppelte sich 1972 die Zahl der Stimmberechtigten. Weil dabei aber der Stimmzwang abgeschafft wurde, sank die Stimmbeteiligung drastisch. Jetzt gab nicht mehr fehlender Platz, sondern sinkendes Bürgerinteresse den Einwohnerräten Auftrieb.

Am 17. März 1972 unterbreitete der Gemeinderat Windisch der Gemeindeversammlung die neue Gemeindeordnung. Die 261 anwesenden Stimmberechtigten hiessen sie mit grosser Mehrheit, bei einer Gegenstimme, gut. Mit einer Urnenabstimmung am 16. April 1972 wurde die definitive Einführung des Einwohnerrates auf den 1. Januar 1974 mit 700 Ja- gegen 60 Nein-Stimmen bestätigt. Der Wechsel von der direkten zur indirekten Gemeindedemokratie veränderte den politischen Alltag. Die Parteien und Fraktionen bekamen mehr Gewicht. Der Einfluss der Stimmbevölkerung beschränkte sich nun auf die jährlichen Budgetabstimmungen und Vorlagen, die dem obligatorischen oder fakultativen Referendum unterstanden sowie auf Initiativen und die Wahl der Einwohnerratsmitglieder alle vier Jahre.

Erste Wahl mit Panne
Die erste Windischer Einwohnerratswahl im Oktober 1973 wurde zu einer Manifestation. Daran beteiligten sich neun Parteien und Bewegungen, die für die 40 Sitze insgesamt 145 Kandidatinnen und Kandidaten nominierten. Die Wahlresultate wurden mithilfe des neuen Computers an der Höheren Technischen Lehranstalt (HTL) Brugg-Windisch ermittelt. Aber eine Programmierpanne führte zu stundenlanger Verzögerung. Schliesslich ergab sich folgende Sitzverteilung: SP 11, FDP 10, CVP 8, EVP 4, SVP 2, Team 67 2, Landesring 1, Republikaner 1, Gewerbeverein 1, Liberalsozialisten 0. Dass die SP obenaus schwang, war keine Überraschung, denn das Fabrikarbeiter- und Eisenbahnerdorf Windisch galt seit je als «rot». Die FDP führte die bürgerliche Seite vor der CVP an, wogegen die SVP damals noch sehr wenig Brot hatte. In der Gemeinde bekannte Personen dienten den Parteien als Zugpferde. Wie Kandidierende in der ersten Einwohnerratswahl abschnitten, untersuchte der in Brugg aufgewachsene Politikwissenschafter Rudolf Burger, langjähriger Radio-DRS-Auslandkorrespondent in Amerika und Deutschland, später stellvertretender Chefredaktor der Berner Zeitung «Der Bund» sowie Gemeindepräsident von Bolligen (BE). Er nahm 1979 in einer Studie bestimmte Merkmale der kandidierenden und gewählten Einwohnerräte unter die Lupe und analysierte, welche Faktoren die Wahlchancen beeinflussten: Geschlecht, Alter, Neuzuzüger oder Ortsverbundenheit, Mieter oder Hausbesitzer, attraktiver Beruf, politische Erfahrung, Zivilstand, Konfession, soziale Schicht.

«Röntgenbild» der Kandidaten
Rudolf Burger stellte fest, dass die Parteien aus Proporzgründen trotz Rekrutierungsmühen mit möglichst vielen Kandidierenden an den Wahlen teilnahmen, wogegen das Kandidatenangebot den Wählerinnen und Wählern zu gross schien.

Frauen, Jugendliche, ältere Personen und Mieter waren im Vergleich mit ihren Anteilen an der stimmberechtigten Bevölkerung untervertreten. Bessere Chancen hatten politisch erfahrene Kandidierende, auch solche mit sozialem Beruf und aus höheren sozialen Schichten sowie mit starker Bindung zur Gemeinde, regelmässigen Kontakten zur Bevölkerung und Vereinsaktivisten. Zum Beispiel wurden 20 gehobene Angestellte gewählt, unter ihnen mehrere Lehrkräfte, jedoch nur zwei selbständige Gewerbetreibende. Kaum eine Rolle spielte die Platzierung auf der Wahlliste. Auch nicht im Vorteil waren besonders fleissige Wahlkämpfer und Wirtshausbesucher, wohl aber Bewerber mit grosser Familie.

Am 8. Januar 1974 trat der neue Einwohnerrat zur konstituierenden Sitzung zusammen. Im umgebauten Einwohnerratslokal im Dachgeschoss des neuen Gemeindehauses fehlten nur noch die Vorhänge, wie der Protokollführer, Gemeindeschreiber Urs Säuberli, vermerkte. Den Anwesenden wurde nahegelegt, das Rauchen «wenn möglich» zu unterlassen. Gemeindeammann Aldo Clivio (FDP) registrierte unter Namensaufruf 38 anwesende Ratsmitglieder; eine Person war krank, eine zweite im Ausland. Ledige weibliche Personen, wie die zur Stimmenzählerin gewählte Sekundarlehrerin Elisabeth Kägi (EVP), wurden mit «Fräulein» angesprochen. Die Inpflichtnahme geschah mit dem Gelöbnis, «die Ehre und die Wohlfahrt der Gemeinde Windisch zu fördern und der Verfassung und den Gesetzen gemäss nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln».

Auftakt mit Kampfwahlen
Gleich darauf setzten die ersten politischen Ausmarchungen ein. Um das Ratspräsidium bewarben sich in einer Kampfwahl Ernst Birri, Sekundarlehrer (CVP), und Max Brehm, Kaufmann (SP).

Ernst Birri wurde mit 21 Stimmen gewählt und übernahm – offensichtlich nicht ganz unvorbereitet – sofort den Vorsitz für den Amtszyklus 1974/75. Max Brehm wurde mit dem Vizepräsidium getröstet und rückte dann 1976 als Präsident nach. Der Rat genehmigte sich 20 Franken Sitzungsgeld, vier Franken mehr als die Mitglieder von Gemeindekommissionen bezogen; ein Antrag auf 30 Franken wurde abgelehnt. Zum Schluss der Sitzung, die bis zur Abtragung aller 16 Traktanden fast drei Stunden dauerte, gab die Musikgesellschaft Eintracht dem neuen Rat und Publikum ein Ständchen.

Im Laufe der Jahre erlebte der Einwohnerrat Höhen und Tiefen. Meistens traf er aber den «Nerv des Volkes» Jedenfalls stellten die Stimmberechtigten das Gemeindeparlament selten in den Regen, wenn sie das letzte Wort zu Einwohnerratsentscheiden hatten. Weit oben auf der langen Liste behandelter Geschäfte stehen Kreditbeschlüsse für bedeutende Infrastrukturprojekte. Allen voran der im Rahmen der «Vision-Mitte»-Planung verwirklichte Fachhochschul-Campus im Bachtalenquartier, an der Nahtstelle zu Brugg, samt dem neuen Sportzentrum Mülimatt und dem Boulevard-Ausbau der Zürcherstrasse – ein Jahrhundertprojekt. Die nachhaltigste Weichenstellung hätte 2006 die Initiative zur Vorbereitung des Gemeindezusammenschlusses mit der Stadt Brugg werden können. Sie wurde vom Einwohnerrat und der Stimmbevölkerung Windischs unterstützt, jedoch von den Stimmberechtigten Bruggs verworfen.

Die wechselhaften politischen Kräfteverhältnisse der vergangenen 50 Jahre spiegeln sich auch in der Zusammensetzung des Einwohnerrats. Die ursprünglich beteiligten Landesring, Team 67, Junge Liste und Liberalsozialisten sind verschwunden, während Grüne und Grünliberale dazukamen. Über die ganze Zeit vermochten sich die SP als stärkste und die FDP als zweitstärkste Fraktion zu behaupten. Die SVP stieg von der anfänglichen Nebenrolle zur drittstärksten Kraft auf und überholte die CVP/Mitte. Bemerkenswert stabil blieb die EVP. Seit der letzten Wahl am 21. November 2021 setzt sich Windischs Gemeindeparlament wie folgt zusammen: SP 12 Sitze, FDP 8, SVP 6, Grüne 5, Mitte/CVP 3, EVP 3, GLP 3. Das jüngste Mitglied Alex Heinemann (FDP), ist momentan 23-, das älteste Fredy Bolt (SP), 75-jährig.