Tempo-30-Umsetzungen stoppen?

In Hausen und Riniken sind Referenden gegen Tempo-30-Vorhaben ergriffen worden. Es kommt zu Urnenabstimmungen.
In Hausen ist man auf den Quartierstrassen Tempo 30 statt 50 gewohnt, auch auf der viel befahrenen Holzgasse (im Bild). Doch auf der Hauptstrasse ist die geplante Temporeduktion umstritten. (Bild: hpw)

Tempo-30-Vorhaben enthalten politischen Zündstoff. So werden gegenwärtig mit Referenden in mehreren Aargauer Gemeinden Temporeduktionen angefochten – auch in Hausen und in Riniken. In Villnachern läuft die Referendumsfrist noch für die von der Gemeindeversammlung mit deutlicher Mehrheit beschlossene flächendeckende Einführung von Tempo 30. In Hausen muss definitiv nochmals an der Urne über einen Tempo-30-Versuchsbetrieb auf der Hauptstrasse im Dorfzentrum und im Bereich der Schulanlagen abgestimmt werden – auf den Quartierstrassen besteht die Temporeduktion schon seit einigen Jahren. Und in Riniken steht die beschlossene Tempolimitierung auf allen Gemeindestrassen im Gemeindegebiet erneut zur Diskussion.

Hier wie dort hiessen die Stimmberechtigten die Tempoeinschränkungen an den Gemeindeversammlungen im November gut. Die Gemeinderäte beantragten die Tempo-30-Lösungen aufgrund von Initiativen aus der Bevölkerung. Aber an beiden Orten wurde gegen die Beschlüsse erfolgreich das Referendum ergriffen. In Hausen kam der Widerruf mit bemerkenswert hohen 372 gültigen Unterschriften zustande (nötig waren 229 Stimmen); in Riniken unterschrieben 237 Stimmberechtigte das Referendum (das erforderliche Quorum lag bei 197).

Hausen: Schulwegsicherheit mit Nebengeräuschen
Der Gemeinderat Hausen begründete die Temposenkung auf 400 Metern Hauptstrasse und mehreren Schulwegquerungen mit der erhöhten Verkehrssicherheit für die Schulkinder. Er erörterte den Plan auch in einer Projektgruppe mit der Planungs-, Bau- und Verkehrskommission, dem Elternforum, dem Forum 60 plus, dem Verein Pro Velo und der Behindertenstiftung Domino. Um die Auswirkungen von Tempo 30 besser beurteilen zu können, beantragte er einen einjährigen Testbetrieb und einen Kredit von 29 000 Franken für Verkehrsüberwachung, Signalisations- und Markierungsanpassungen. Die Vorlage löste an der Gemeindeversammlung eine lebhafte anderthalbstündige Diskussion aus. Die einen fanden die Temporeduktion schlicht unnötig, andere wollten sie gleich sofort, ohne Versuchsbetrieb, einführen. Am Schluss obsiegte der gemeinderätliche Vorschlag.

Im Laufe der Debatte stellte sich heraus, dass der Gemeinderat befugt wäre, nach der Testphase Tempo 30 von sich aus zu verfügen, wenn er es für richtig hielte; doch ein Antrag, ihm diese Ermächtigung zu entziehen, wurde abgelehnt. Hier hakt nun das Referendumskomitee ein. Es kreidet der Behörde an, dass sie in der Vorlage an die Gemeindeversammlung ihre Entscheidungskompetenz nicht offenlegte. Zudem kritisiert der Sprecher des Komitees, Turi Hohl, dass die Eltern mit dem Argument der Schulwegsicherheit von der Schulleitung, wohl mit dem Wissen des Gemeinderats, auf die Gemeindeversammlung aufmerksam gemacht worden seien, was zu einem starken Versammlungsbesuch geführt und letztlich den Ausgang der Tempo-30-Abstimmung beeinflusst habe. Wegen dieser Schlaumeierei, wie es Hohl nennt, müsse das Geschäft zur Urnenabstimmung gebracht werden.

Der gemeinderätliche Ressortchef Schule, Vizeammann Stefano Potenza, bestätigte auf Anfrage, dass die Schulleitung – «wie schon früher bei wichtigen Geschäften, welche die Schule betrafen» – die Eltern via App darüber informiert habe, dass an der Gemeindeversammlung «der Verpflichtungskredit Testbetrieb Hauptstrasse und der Verpflichtungskredit Sanierung altes Lindhofschulhaus» traktandiert seien – «mehr nicht und selbstverständlich ohne Abstimmungsempfehlung».

Riniken: Ein Entscheid, ebenfalls von einem Vorwurf begleitet
In Riniken verlangte eine Petition aus der Bevölkerung im Dezember 2022 die Einführung von Tempo 30 im Teilgebiet Kirchacker/Paradiesstrasse/Parkstrasse/Kreuzweg. Der Gemeinderat entschied daraufhin, die Tempolimitierung auf dem ganzen Gemeindegebiet zu prüfen. Ein Konzept der Belloli Raum- und Verkehrsplanung GmbH in Brugg ergab, dass sich Riniken gut für Tempo-30-Zonen eignen würde. Davon versprach man sich eine Erhöhung der Verkehrssicherheit sowie eine Verbesserung der Wohn- und der Aufenthaltsqualität in den Quartieren und eine Lärmreduktion. Deshalb wurden der Gemeindeversammlung die flächendeckende Einführung von Tempo 30 auf den Gemeindestrassen – ohne Kantonsstrassen – und ein Kredit von 68 000 Franken für die Planung, die Signalisation und die Markierung beantragt und gutgeheissen.

Ein Referendumskomitee will diesen Beschluss rückgängig machen. Es hält eine Temporeduktion in den Quartieren nicht für nötig, weil von den Anwohnerinnen und Anwohnern vernünftig gefahren werde und es in den letzten Jahren keine Unfälle zwischen starken und schwachen Verkehrsteilnehmern gegeben habe. Eine wirklich gefährliche Situation bestehe ab der Einmündung Rüfenacherstrasse in die Unterdorfstrasse, über den Dorfsteig und die Oberdorfstrasse bis zum Fussgängerstreifen beim Waagplatz, aber dafür sei der Kanton zuständig. Tempo 30 könne auch ein falsches Sicherheitsgefühl vermitteln. Ein Risiko bleibe immer, selbst bei Tempo 30. Zudem benötige die flächendeckende Einführung von Tempo 30 über 40 Signaltafeln und noch mehr Bodenmarkierungen. Das sei in einer ländlichen Gemeinde mit vorwiegend Einfamilienhausquartieren völlig übertrieben, argumentiert das Referendumskomitee.

Ebenfalls in Riniken bewegen nicht nur verkehrstechnische Aspekte die Tempo-30-Debatte, sondern wie in Hausen wird hier der Vorwurf erhoben, die Bevölkerung oder zumindest die Elternschaft sei von gemeinderätlicher Seite über den schulinternen Kommunikationskanal «Klapp» zur Teilnahme an der Gemeindeversammlung – wenn auch ohne Abstimmungsempfehlung – animiert worden.

Empfehlungen der BfU und eine physikalische Gesetzmässigkeit
Die Gemeinderäte Hausen und Riniken beriefen sich bei ihren Tempo-30-Anträgen auf Erkenntnisse und Empfehlungen der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU). Dem Hinweis der Tempo-30-Kritiker, dass auf den Strassen in den beiden Ortschaften in letzter Zeit keine gravierenden Unfälle passierten, hält die BfU den Tatsachenbefund entgegen, dass rund 60 Prozent aller schweren Verkehrsunfälle in der Schweiz innerorts geschähen. Ein entscheidender Faktor sei die Geschwindigkeit, betont die BfU. So erhöhe sich die Sterbewahrscheinlichkeit für Fussgängerinnen und Fussgänger bei einer Kollision mit einem Fahrzeug bei Tempo 50 um das Sechsfache gegenüber Tempo 30.

Ein junger Familienvater in Hausen rief während der Diskussion an der Gemeindeversammlung in Erinnerung, was alle Fahrzeuglenkerinnen und -lenker bei der Fahrprüfung wissen müssen, nämlich die physikalische Gesetzmässigkeit des Bremswegs (abhängig von Geschwindigkeit und Reaktionsfähigkeit). Bei Tempo 30 beträgt die Anhaltestrecke 21 Meter und bei Tempo 50 das Doppelte, etwa 41 Meter.