Lest mehr Schund! Es heilt den Geist

In der Rubrik «Querbeet» beleuchten namhafte Autorinnen und Autoren ein von ihnen gewähltes Thema – und sorgen damit wöchentlich für Inspiration.

Lasst die Blagen ruhig jeden Schund lesen! Das gilt nicht als ­pädagogisch wertvoller Ratschlag, beruht aber auf Erfahrung. Man soll die Leute nicht nach Theorie erziehen, sondern aufgrund von Erfahrung. Meine Erfahrung in ­Sachen Schund ist diese: Als ich in die Primarschule ging, schenkte mir mein Vater das erste Buch – «Fury». Weil wir Goofen jeweils bei «Fury» und «Flipper» vor der Glotze hingen. Die Serie war öde, das Muster kinderleicht zu durchschauen. Das Buch las ich durch in einem Zug, gleich dreimal hinter­einander – es gab kein anderes. Die Überdosis verleidete mir fortan alles Triviale. Ähnliches passierte meinem Vater. Der Schichtarbeiter hatte während seiner Jugend (mittendrin abgewürgt durch den ­«Aktivdienst») Swiss Swing gehört am Radio. Als er sich ein Grammophon leisten konnte, kaufte er Schallplatten von Hazy Osterwald, Rudi Schuricke und Lale Andersen. Meine Mutter musste putzen ­gehen, um das Haushaltsgeld auf­zubessern. Sie träumte vom ­«Zigeunerbaron», hörte Operetten. Und dann geschah etwas, das man heute gern «Quantensprung» nennt: Madame Doktor, deren Villa Mama putzte, übergab ihr ein Schallplatten-Album: «Weil ihr ­Filius», sagte Madame, «neuerdings aufs Gymnasium geht.» Das Album enthielt auf 45-er-Platten Erläuterungen und Klangbeispiele zu grossen Werken der Klassik: «Die vier Jahreszeiten», «Zauberflöte», «Feuerwerk-Musik» usw. Der Gymnasiums-Schnösel hörte Dylan und Led Zeppelin. Mein Vater verabscheute beides; das Klassik-Kolleg aber kränkte ihn. Aus seinem Sohn sollte kein feiner Pinkel werden. Eines Tages kam Vater von der Frühschicht nach Hause. Von Madames Kolleg erklang gerade der zweite Satz von Beethovens 5. Klavierkonzert. Mein Vater setzte sich, lauschte, mehr und mehr nach vorn gebeugt … und begann zu weinen. Jeder lebendige Geist will die Welt im Kopf vertieft, erhöht, bereichert sehen. Man beginnt mit Schlechtem und steigt mit der Erfahrung auf zum Besseren. Um eines Tages anzukommen beim Besten. Lasst die Blagen ruhig jeden Schund lesen!

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