Nach 110 Jahren offen für Frauen

Die Schweizerische Pestalozzistiftung in Birr hat ein Wohnheim für junge Frauen eröffnet und so eine Bedarfslücke im Aargau geschlossen. Mit dem Florahof schreibt das Berufsbildungsheim ein neues Kapitel.
Die einstige Wirkungsstätte Pestalozzis hat in ihrer Geschichte einen Paradigmenwechsel eingeleitet, indem sie ihre Türen nun für junge Frauen öffnet, die fürsorgerisch-soziale Unterstützung benötigen. (Bild: hpw)

Fast auf den Tag genau 110 Jahre ist es her, dass im Januar 1914 das Erziehungsheim für Burschen auf dem Neuhof eröffnet wurde. An der einstigen Wirkungsstätte Johann Heinrich Pestalozzis vollzieht das von der Schweizerischen Pestalozzistiftung getragene heutige Berufsbildungsheim einen Paradigmenwechsel. Der Neuhof öffnet sich erstmals auch jungen Frauen, die fürsorgerisch-soziale Unterstützung benötigen. Er bietet ihnen einerseits mit der neuen, externen Wohngruppe Florahof in Möriken-Wildegg eine geschützte, stabile Unterkunft und andererseits die Möglichkeit zur Berufsvorbereitung und anschliessenden Lehre auf dem Neuhof in Birr.

Ein optimales Objekt gefunden
Das Angebot schliesst eine Lücke im Aargau. Instanzen wie Sozialfürsorgestellen, Jugendanwaltschaft, Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) hielten seit Jahren nach einer solchen Einrichtung Ausschau. Umso mehr wurde die neue Einrichtung an der Eröffnungsfeier begrüsst und der Neuhof für seine Initiative gelobt. Stiftungsratspräsident Christoph Tschupp würdigte die zügigen Vorbereitungen. Seit dem Kauf der Liegenschaft, der Konzeptgenehmigung durch das Bundesamt für Justiz, der Baubewilligung und dem Umbau bis zur Inbetriebnahme vergingen nur 14 Monate.

Mit dem Florahof, einer ehemaligen bäuerlichen Liegenschaft, die zuletzt der Familie Frey-Gebhard gehörte, sicherte sich die Pestalozzistiftung ein ideales Objekt für ihr neues Vorhaben. Das repräsentable Gebäude am Dorfrand von Möriken sei schon auf der Siegfriedkarte von 1880 vermerkt worden, berichtete Frau Gemeindeammann Jeannine Glarner, die sich ausserdem glücklich schätzte, dass die Immobilie nicht an irgendwen, sondern an den Neuhof überging. Hofarchitekt Norbert Walker gestand, er sei von Anfang an von der Schönheit des Hauses betört gewesen. Für den sorgsamen Umbau bekam Bauleiterin Nicole Aeschi viele Komplimente. Die Einzelzimmer und die Gemeinschaftsräume für die Wohngruppe wirken sehr behaglich.

Über das gelungene Werk freuen sich an der Eröffnung Daniel Büchi, Gesamtleiter Neuhof, Christoph Tschupp, Präsident der Pestalozzistiftung ­Neuhof, ­Caroline Baumann, Teamleiterin Florahof, und Daniel Senn, Leiter ­Betriebe ­Neuhof. (Bild: hpw)

Vor neuen Herausforderungen
Neuhof-Gesamtleiter Daniel Büchi verschwieg nicht, dass das erweiterte koedukative Betriebskonzept zur dezentralen Betreuung und gemeinsamen Ausbildung der jungen Männer und Frauen viel Bewegung in das Heim und die Werkstätten gebracht habe. Bei den Vorbereitungen habe man sich die jahrzehntelangen Wohn- und Therapieerfahrungen der spezialisierten bernischen Victoria-Stiftung zunutze gemacht. Deren Leiter André Wyssenbach zeigte sich von der Umsetzung des neuen Florahofs beeindruckt. Eine weitere Ergänzung des Betreuungsangebots werde geprüft, zum Beispiel auch im Erziehungsheim Effingen, erklärte Joël Kirchhofer vom aargauischen Departement Bildung, Kultur und Sport.

Fachleute betonen, dass psychische Probleme, Stresssymptome und Angstzustände bei Jugendlichen zunähmen, was Auswirkungen auf die Jugendheime habe. Viele müssen ihre Kompetenzen in der psychiatrischen Betreuung junger Menschen ausbauen. In der Florahof-Wohngruppe finden bis zu acht Personen Platz. Sie werden von einem Dreierteam, das sich ablöst, rund um die Uhr betreut. Ziel ist es, den jungen Frauen, die meistens aus zerrütteten sozialen Verhältnissen stammen, ein stabiles Umfeld zu geben, sie dadurch vor der Verwahrlosung sowie dem Abgleiten in die Drogensucht oder die Kriminalität zu schützen und ihnen eine berufliche Ausbildung zu ermöglichen. Der Aufwand dafür ist beträchtlich, aber für die Gesellschaft und den Staat wahrscheinlich günstiger als strafbares Verhalten.

Weitere Neuhof-Pläne
Der Neuhof bietet derzeit rund 40 Jugendlichen Möglichkeiten für eine Ausbildung in Gartenbau, Gärtnerei, Floristik, Gastronomie, Landwirtschaft, Malerei, Metallbau und Schreinerei. In der ehemaligen Malereiwerkstatt werden jetzt Räume für Berufsvorbereitungskurse geschaffen, in denen die jungen Männer – und bald auch Frauen – auf die Berufswahl sowie eine heiminterne oder externe Lehrstelle vorbereitet werden.

Auf dem Neuhof-Areal betreibt zudem Jardin Suisse Aargau, der Berufsverband der Gärtner und Gartenbauer, seit drei Jahren ein Zentrum für überbetriebliche Kurse. Ein gleiches Projekt möchte der VSSM Aargau, der Verband der Schreinermeister und Möbelfabrikanten, realisieren. Dem stehen noch Bedenken des Heimatschutzes im Weg. Hier kreuzen sich unterschiedliche Interessen: einerseits die Bewahrung des historischen Neuhof-Bauensembles, andererseits das Ausbildungsangebot für junge Menschen, das ebenfalls zur DNA des Neuhofs gehört und Pestalozzis Vermächtnis entspricht.