Dicht, emotional und berührend

Das Cinema Odeon ermöglichte ein ausserordentliches Filmereignis. Der Ausdruckskraft dieses Films und der Tiefe des Filmgesprächs konnte sich wohl niemand im bis auf den letzten Platz besetzten Saal entziehen.
Frankreichs Botschafterin Marion Paradas wendet sich auf Deutsch an das Publikum, Charlotte Meisner und Laetitia Colombani hören gespannt zu.(Bilder: pbe)

Ein Zopf ist ein aus drei Haarsträngen geflochtenes kleines Kunstwerk. «Der Zopf» – «La Tresse» im französischen Originaltitel – ist zunächst der Erstlingsroman von Laetitia Colombani, ein in bereits 40 Sprachen übersetztes Meisterwerk. Drei Frauen werden vorgestellt, alle in erschütternden Grenzsituationen. Die Inderin Smita verlässt mit ihrer kleinen Tochter die perspektivlose Realität einer Unberührbaren und opfert in einem Tempel ihre eigene und die Haarpracht des Mädchens, um so göttliche Gunst zu erwirken. In Süditalien übernimmt Giulia nach dem Unfalltod ihres Vaters dessen Kleingewerbe, eine Perückenmanufaktur. Der drohenden Firmen- und Privatinsolvenz begegnet sie mit einem neuen Geschäftsmodell: Sie importiert günstige Haare aus Indien. Und in Kanada versucht sich die Powerfrau Sarah, gegen ihre Krebserkrankung zu stemmen, zunächst erfolglos; sie verliert ihren Job und ebenso ihre wunderschönen Haare. Dann kauft sie sich eine Perücke, in Italien aus kräftigem indischem Haar hergestellt – die Verflechtung von Einzelschicksalen.

Hochkarätige Gäste
Den Verantwortlichen des Cinemas Odeon ist es gelungen, zum Internationalen Frauentag eine wahrhaft denkwürdige Veranstaltung zu organisieren. Zur Premiere des Films «Der Zopf» fanden sich nebst einem grossen Publikum vier Frauenpersönlichkeiten ein: Marion Paradas, die französische Botschafterin in der Schweiz, Laetitia Colombani, Roman- und Drehbuchautorin, Charlotte Meisner, Professorin für französische Literatur und Kultur an der ETH Zürich, sowie Bruggs Frau Stadtammann Barbara Horlacher. In ihrem Willkommensgruss reflektierte diese die aktuelle Situation bezüglich Gleichberechtigung der Geschlechter. Sie bekannte ihre eigene privilegierte Lage, die ihr alle privaten, beruflichen und politischen Optionen ermöglicht.

Nach dem Filmereignis: Botschafterin Marion Paradas und Frau Stadtammann Barbara Horlacher.

Frankreichs Botschafterin Marion Paradas wandte sich auf Deutsch an die Anwesenden. Sie verwies auf die Situation in ihrem Heimatland, wo zunehmend Frauen den Weg in die Di­plomatie fänden. Sie würdigte den Mut und die Entschlossenheit der drei Filmprotagonistinnen, die symbolisch als Vorbilder für alle Frauen gesehen werden können.

Gefühle und Intuition
Der Filmvorführung ging ein Gespräch voraus, das Charlotte Meisner mit Laetitia Colombani führte. Diese erklärte, dass sie der Erfolg ihres Buchs vollkommen überrascht habe. Niemals habe sie mit einem derart überwältigenden Echo vor allem von Frauen in schwierigen Lebenssituationen gerechnet. Eindrücklich schilderte Colombani, wie sie sich immer tiefer in die Gefühlswelt der drei fiktiven Hauptpersonen hineingefunden habe.

Auf die Frage nach der grössten Herausforderung bei der filmischen Umsetzung ihres Buchs sagte sie: «Es war nicht einfach, die drei Frauen gleichgewichtig darzustellen, mit gleicher Intensität.»

Erstaunliches verriet sie zur Auswahl der Schauspielerinnen. Aus Dutzenden von Kandidatinnen in jedem der drei Länder habe sie sofort und intuitiv die Richtige erkannt. Das kleine indische Mädchen war übrigens ein Strassenkind, obdachlos und ohne jegliche schulischen Kenntnisse. Und doch spielt es seine Rolle im Film mit verblüffender Selbstverständlichkeit und Überzeugungskraft.

Niemand blieb unberührt
Nach der Filmvorführung herrschte ausnahmslos Betroffenheit. Und Bewunderung für die drei Frauen, die sich mit schwierigsten Situationen konfrontiert sehen und diese zu überwinden suchen. «Braucht es heute noch einen Internationalen Frauentag?», fragte Charlotte Meisner. Autorin und Regisseurin Laetitia Colombani antwortete: «Leider ja!» Eine Frau aus dem Publikum fragte: «Ich muss mich meiner Tränen doch nicht schämen, oder?»

Marion Paradas sagte gegenüber dem «General-Anzeiger», sie habe das Buch «Der Zopf» gekauft, aber noch nicht gelesen: «Der Film hat mich ganz direkt angesprochen.» Auch Charlotte Meisner war berührt. Mit Verweis auf die gezeigten Verflechtungen betonte sie: «Wir sind nicht allein.»