«Floskeln interessieren mich immer sehr»

Eine Musikalische Lesung mit dem Autor Pedro Lenz und dem Saxofonisten Simon Spiess in der Bibliothek Eigenamt: Das literarische Auge von Pedro Lenz erkennt die Besonderheiten in Banalität und Alltag. Sein Schreiben spiegelt kleine Details im grossen Bild.
«Manchmal höre ich: ‹Pedro, du immer mit deinen Mundartgschichtli, schreib doch mal einen Weltroman.›»(Bild: zVg | Daniel Rihs)

Pedro Lenz, der Buchtitel Ihrer Geschichtensammlung lautet «Chöit ders eso näh?». Gehen Sie selbst gern einkaufen?
Eigentlich schon, ja. Mir gefällt es, unter Leute und auf Marktgang zu gehen. Man sieht einander, wechselt ein Wort. Während der Pandemie hat mir das sehr gefehlt: hinausgehen und Leute treffen. Ich gehe gern einkaufen.

In vielen Alltagssituationen liegen Situationskomik und eine feine Ironie verborgen. Suchen Sie diese, oder geben sie sich Ihnen zu erkennen?
Ich nehme oft Szenen wahr und denke, das ist schon fast ein Stoff. Aber ob es wirklich etwas ist, das ich literarisch verwenden kann, merke ich meistens erst beim Schreiben. Manchmal präsentiert sich etwas wie eine bereits fertige Geschichte. Beim Schreiben merke ich dann, dass mir die Worte für die Normalität und die Banalität fehlen, weil diese nicht in Worte zu fassen sind. Manchmal gelingt es, und dann wirkt es ganz leicht. Und wenn es nicht gelingt, muss ich es verwerfen.

Mit dem Satz «Chöit ders eso näh» neigt sich nicht nur ein bestimmter szenischer Ablauf seinem Ende zu. In diesem Satz ist eine Einkaufskulisse angelegt; vielleicht wird sogar ein Einkaufstempo wiedergegeben. Das alles findet in einer einzigen Floskel Platz.
Diese Floskel hat einen Wiedererkennungseffekt. Fast jeder, der selbst einkaufen geht, kennt diesen Satz. Es hat etwas Abschliessendes, etwas Floskelhaftes. Und das Floskelhafte interessiert mich literarisch immer sehr. «Chöit ders eso näh» ist der Abschluss. Es heisst: «Jetzt haben Sie alles, oder?» Es ist eine Abrundungsfrage. Gleichzeitig ist es die Aufforderung zu antworten: «Nein, ich habe schon eine Tasche; merci, ich kann es gut so nehmen.» Es gibt viele umgangssprachliche Elemente, die man sofort wiedererkennt. Der Aussenblick auf die Sprache, auf solche Banalitäten, interessiert mich.

Was sieht Ihr Aussenblick, wenn er auf Floskeln schaut?
Jeder Sprachraum, jede Kultur, jeder Dialekt hat Eigenheiten, die man nicht kennt, wenn man sich nicht selbst dort aufgehalten hat. In Österreich zum Beispiel gibt es die Floskel «Passt schon». Das heisst: «Ist schon okay, kein Problem.» Als ich das zum ersten Mal hörte, dachte ich, was ist das? «Passt schon» – ich habe mir das wörtlich überlegt: Etwas muss hineinpassen. Jede Sprache hat solche Ausdrücke, auch jeder Dialekt.

Beabsichtigen Sie einen Verfremdungseffekt, indem Sie so genau auf einen Satz, einen Ausdruck, seine eigentliche Bedeutung und seine beabsichtigte Wirkung schauen, und entheben ihn dadurch seiner Banalität?
Um das zu erreichen, genügt es manchmal bereits, dass man etwas spiegelt. Nehmen wir zum Beispiel den Satz «Säckli welle?». Das ist eigentlich ein Fragesatz: «Hei der ächt gärn es Säckli welle?» Er wird verkürzt, reduziert aufs Minimalste, das noch geht, das man noch verstehen kann. Noch weniger wäre nur «Säckli?», aber das wäre nicht mehr höflich.

Alltagssprache hat viel mit Wiedererkennung zu tun, wie Sie vorhin sagten. Aber auch mit einer Ergänzungsleistung, die wir in Gedanken vornehmen und vom Gegenüber erwarten. Das geht, weil wir wissen, wie ein ganzer Satz heisst.
Wir können unsere Sprache, unsere Dialekte, bis fast zur Unkenntlichkeit verbröckeln, weil wir sie kennen, weil wir vertraut sind mit ihrer Ganzheit. Nur schon auf Hochdeutsch müsste ich anders fragen. Ich wüsste nicht einmal, was Säckli auf Hochdeutsch heisst. «Tütchen gewollt?» – das würde nicht gehen. Wo man sehr vertraut ist mit der Sprache, kann man mit ihr spielen und sie isoliert darstellen. Erst dann merkt man, welche Eigenarten ein Dialekt hat.

Sprache verändert sich ständig. Und Floskeln ebenso. Ihre Grosseltern haben bestimmt nie «Säckli welle?» gehört. Finden Sie es als Wortkünstler tragisch, wie Sprache heute im Alltag verkürzt wird?
Ich versuche, möglichst wenig zu werten. Es ist ja nicht so, dass Sprache verarmt. Ich habe das Gefühl, dass alles seinen Grund und seine Logik hat, weshalb sich Sprache in eine bestimmte Richtung verändert. Es ist wie ein Fluss. Man kann ihn nicht stoppen. Es würde nichts bringen, wenn ich aufstünde und sagte, ihr macht das alle falsch. Damit gewinnt man nichts. Die Sprachbewahrer, die den Finger heben, sehen nicht, dass alles im Fluss ist. Klar kann man sagen, für mich klingt das komisch. Früher sagte man zu einem Hügel «en Hogger». Heute hört man auch «en Hügel». Das hochdeutsche Wort wurde in die Mundart aufgenommen. Wir haben viele Germanismen in die Mundart aufgenommen und einen kreativen Umgang mit diesen Lehnwörtern. Wir betten sie in unsere Sprache ein. Man muss einfach locker bleiben.

Gerade in Soziolekten, dem eigenen Sprachgebrauch von sozialen Gruppen, kann man diese Lockerheit gut beobachten und hören.
Sprachliche Ausdrücke sind der Zeit unterworfen. Sie kommen auf und verschwinden wieder. In gewissen Milieus findet man Arten, Sachen zu verniedlichen. So wird zum Beispiel die Spritze im Drogenmilieu zur Pumpe. Das klingt vielleicht ein bisschen weniger medizinisch. Oder wir bestellen «no es Bierli gärn». Wo etwas problematisch wird, erhält ein Ausdruck eine Verniedlichung, eine Auflockerung. Gleichzeitig ist Sprache träge. So kann ein Wort im Sprachgebrauch noch liegen bleiben, selbst wenn sich der Alltag bereits verändert hat.

Die 50 Geschichten in «Chöit ders eso näh?» sind als Kolumnen erschienen. Was fasziniert Sie an der literarischen Kleinform von Kolumnen und Kurzgeschichten?
Als ich Schriftsteller werden wollte, konnte ich anfangs nicht von der Literatur leben. Damals gab es beim Zeitungsverbund Bern viele Kolumnisten. So bekam ich eine Spalte, die ich jede Woche oder sogar dreimal wöchentlich füllen konnte. Um die vorletzte Jahrhundertwende haben viele Autoren und Dichter, die später berühmt wurden, von dieser literarischen Kleinform gelebt und daneben ihre Romane geschrieben. Als ich spanische Literatur studierte, begann ich, mich mit dieser literarischen Gattung, der Kolumne, näher zu befassen.

Fällt es Ihnen leicht, ein Thema für Ihre Kolumnen zu finden?
Die Vorgaben für Kolumnen helfen mir, mein Schreiben zu kontrollieren. Inhaltlich sollten nicht zu viele Sachen gemischt werden, am besten ist es, sich nur mit einem Gedanken zu befassen. Kolumnen sind ein grosser Reiz für mich. Die Textlänge, der Zeitdruck, die Prägnanz. Thematisch ist mir am liebsten etwas, das nur ich sehe und nur ich so erzählen kann. Ein Thema, das vor mir 100 andere behandelt haben, braucht nicht noch vom Lenz beschrieben zu werden.

Orientieren Sie sich hier an der Weltliteratur? Sie bildet ja oft die grossen Themen im Kleinen ab.
Die Leute hören Weltliteratur und denken, man muss mindestens in Berlin wohnen und über ein Weltthema schreiben. Dabei spielen die literarischen Klassiker, die ich kenne, im Quartier oder im Dorf, das die Autorinnen und Autoren kennen. Sie erzählen von der Provinz, dem Regionalbezug. Manchmal sagen Leute zu mir: «Pedro, du immer mit deinen Mundartgschichtli und so, jetzt schreib doch mal einen Weltroman.»

Was antworten Sie dann?
Ich sage dann, ja, aber ich bin doch in der Welt! Ich muss doch über das schreiben, was ich spüre, was mich betrifft. Es soll doch heissen «das kann nur der Lenz so schreiben». Wenn ich über etwas schreibe, das andere viel besser können, würde ich mich lächerlich machen.

In Ihren Texten kommt Ihre Musikalität zum Vorschein. Sie haben ein sehr rhythmisches Sprachgefühl. An der Lesung in Lupfig werden Sie mit dem Saxofonisten Simon Spiess auftreten. Sind Sprache, oder vor allem Dialekte, und Musik wesensverwandt?
Viele Leute haben eine Sprachmelodie. Wenn ich einen Roman neu beginne, ist das manchmal das Schwierigste: den Ton, die Melodie einer Figur zu treffen. Ich habe ja meistens eine Erzählfigur. Mir sind Rhythmus und Sprachmelodie sehr wichtig, wirklich sehr. Wenn ich mit Musikern auftrete, lerne ich wahnsinnig viel über Bühnenpräsenz. Das fängt bei ganz banalen Sachen an.

Zum Beispiel?
Für einen Musiker, eine Musikerin ist es selbstverständlich, in Sonntagskleidern auf die Bühne zu treten. Viele Schriftsteller gehen mit staubigen Strassenschuhen an eine Lesung. Sie sagen, ich mache ja eine Lesung, ich bin keine Bühnenfigur. Aber ein Musiker würde das nie tun. Ein Musiker weiss: In dem Moment, in dem er auf die Bühne geht, ist er eine Bühnenfigur. Das ist die erste Lektion, die mich Musiker gelehrt haben: «Pedro, mit diesen Schuhen gehst du nicht auf die Bühne. Die Leute sehen dich!»

Was haben Sie für den Auftritt, nämlich die Lesung selbst, von Musikern gelernt?
In meinen ersten Lesungen habe ich begonnen zu lesen, laut und schnell, und habe das so durchgezogen. Musiker brachten mir bei, mir die Bühne zu nehmen, den Raum, den sie bietet, mit Pausen, Rhythmus und Tempowechseln zu füllen. Musiker können das natürlich wie niemand sonst. Sie haben in ihren Noten ein Zeichen für Pausen; in einem Text gibt es das nicht, man muss die Pausen selbst setzen. Pausen und Tempowechsel erzielen eine Wirkung.

Wie bereiten Sie sich noch auf Lesungen vor?
Ich beobachte, wie andere sprechen, und überlege mir dann, wieso jemand eine ganz bestimmte Sprachmelodie oder einen besonderen Sprachrhythmus hat und probiere dann, diese Spracheigenschaften nachzumachen. Manchmal liegt es an Füllwörtern. Oder an doppelten Verneinungen. Solche Details halt.

Der Klang des Saxofons ist der menschlichen Stimme ähnlich. Haben Sie sich deshalb für die Zusammenarbeit mit dem Saxofonisten Simon Spiess entschieden?
Genau weil das so ist und weil das Saxofon fast wie die menschliche Stimme klingt, müssen Simon Spiess und ich uns ganz bewusst abwechseln und abstimmen. Das ist eine grosse Herausforderung. Bei einem Klavier wäre das anders. Dann könnte ich über die Klavierstimme hinweg erzählen, und man würde mich noch immer verstehen. Beim Saxofon ist stets die Gefahr, dass man in eine Konkurrenz tritt, weil die Leute nicht wissen, ob sie jetzt der Stimme des Saxofons oder der Stimme des Geschichtenerzählers zuhören sollen. Es soll fürs Publikum nicht anstrengend werden. Also nicht so, dass immer dann, wenn die Leute der Musik von Simon Spiess zuhören wollen, gerade der Lenz redet. 

Sprache allein ist noch keine Kunst, aber jedes Wort hat eine Wirkung. Würden Sie dem zustimmen?
Ja. Aber dafür muss man jedes Wort in einen Kontext stellen. Die Aufgabe eines Künstlers ist es nicht, ein Ideal herzustellen, sondern das Leben, wie es ist, erfahrbar zu machen. Für mich selbst als Leser lautet das Kriterium nicht, ob Literatur perfekt ist, sondern ob sie mich berührt. Warum sie das macht, kann ich nicht immer sagen, aber das wäre eigentlich genau das Ziel von Literatur.

Freitag, 22. März
Türöffnung 19 Uhr, Lesung 19.30 Uhr
Anmeldung: bibliothek@lupfig.ch  
Bibliothek Eigenamt