«Kein Stein ist auf dem anderen geblieben»

Der Fotograf Ruedi Fischli blickt auf bewegte Zeiten zurück. Der Glarner dokumentierte 40 Jahre mit kritischem Blick die Geschichte der Bäder.
Ruedi Fischli spricht über seine Chronik «Wechselbäder», die vor ihm auf dem Tisch liegt und blickt mit einer antiken Osterhasen-Gussform aus einer ehemaligen Badener Bäckerei in der Hand auf vergangene Zeiten zurück (Bild: ejo)

«Üüsers Huus isch ä chlei verborge und mä gfinds nüd eifach äsoo», sagt Ruedi Fischli am Telefon. Sein unverkennbarer Dialekt lässt rätseln: Wie kommt ein Glarner dazu, eine Chronik über die Bäder in Baden und Ennetbaden zu schreiben? Mit einer wasserdichten Wegbeschreibung geht es nach Untersiggenthal zum versteckten Haus, dessen Eingang mehrere Treppenstufen unterhalb der Strasse liegt. «Gfundä!», freut sich der charismatische Mann, der sein langes graues Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat, als er die Türe öffnet. «Das ist mein Atelier mit meinem organisierten Chaos», sagt der 74-Jährige schmunzelnd auf dem Weg ins Wohnzimmer über seine Kreativstube.

Ein Stockwerk höher, in der guten Stube mit Weitblick aufs Siggenthal, liegt ein grosses blaues Buch auf dem Esszimmertisch: «Wechselbäder – Chronik der Grossen und Kleinen Bäder zu Baden in der Schweiz» heisst das knapp 400-seitige, reich illustrierte Werk, das Ruedi Fischli im Dezember 2023 im Eigenverlag herausgegeben hat. Die Worte auf der ersten Seite des Buches sagen schon einiges über den Menschen aus, der diese Sammlung von Texten, Gesprächen und Recherchen zusammengetragen hat: «Wechselbäder – Leben. Lieben. Baden» und das Zitat, frei nach Tucholsky «Ich habe das Recht, etwas gerade deshalb kritisch zu hinterfragen, weil ich es wertschätze», führen jedoch ebenso zurück zur Eingangsfrage: Herr Fischli, wie kommt ein Glarner dazu, sich ein solches Wissen über die Bäder anzueignen und ein Buch darüber zu schreiben?

Trauer, Feuer und Dankbarkeit: im Wechselbad der Gefühle
Ruedi Fischli und sein drei Jahre älterer Bruder Peter – auch bekannt als Schauspieler unter anderem im Film «Grounding – Die letzten Tage der Swissair» – verbrachten eine schöne Kindheit in Näfels. Trauer überfiel sie, als sie mit nur 10 und 13 Jahren ihre Mutter an Krebs verloren. Nachdem ihr Vater, der eine zweite Frau aus Wettingen zur Ehefrau genommen hatte, kurze Zeit später ebenso verstarb, wurden sie rechtlich zu Waisenkindern. «Wir hatten das grosse Glück, dass wir von unserer Stiefmutter, die Lehrerin war, adoptiert und gefördert wurden», blickt Fischli dankbar zurück und erinnert sich: «Ich kam erstmals mit zwölf Jahren nach Baden und war sofort Feuer und Flamme von der Bäderstadt und deren Geschichte rund um die Thermalquellen auf beiden Seiten der Limmat.»

Nach der Bezirksschule machte Fischli eine Lehre als Hochbauzeichner, absolvierte eine Ausbildung in Grafik und Fotografie an den Kunstgewerbeschulen Zürich sowie Basel und eröffnete 1973 nach einer Weiterbildung in einer Werbeagentur und an der Schule Farbe und Form ein eigenes Fotoatelier im Klösterli in Baden.

Bäderquartier baulich mitgestaltet und geprägt
Einen Namen machte er sich unter anderem als Fotojournalist bei verschiedenen Schweizer Tageszeitungen – darunter das «Aargauer Volksblatt», das «Aargauer Tagblatt» und der «Tagesanzeiger» – und als Fachfotograf, der 1979 das «Brunello»-Haus an der Bäderstrasse kaufte und daneben ein Atelierhaus mit Grossraumfotostudio für Werbung, Industrie und Architektur baute. «Langjährige Kunden, wie die Stadt Baden, BBC/Brown, Boveri & Cie., Merker, Kabelwerke Brugg, Kreditanstalt, Fiat oder ETH ermöglichten, einen respektablen Betrieb aufzubauen.»

In den 90er-Jahren brachte die digitale Fotografie markante Veränderungen mit sich – auch für Fischli: Nach einem Hochschulabschluss in Kunst und Design in Luzern, wandte er sich als einer der ersten Fachfotografen in der Schweiz der neuen Technik zu. 2001 erwarb er das Haus «Drei Eidgenossen» in den Bädern (auch bekannt als «Torbogen») und restaurierte dieses aufwendig. 2006 konnten er dort die Kreativwerkstatt mit der Firma Photography & Creation beziehen.

Insgesamt 40 Jahre verbrachte er mit seiner Frau in den «Bädern», wo sie lebten, liebten, ihre beiden Söhne aufzogen und das Quartier mit den renovierten und erweiterten Häusern auch baulich mitgestalteten. «Das in einer Zeit, als kaum jemand mehr an die Wiederbelebung des Bäderquartiers glaubte», blickt der Fotograf und Buchautor zurück, der sich als Badener fühlt, auch wenn er und seine Frau, ebenso Glarnerin, ihren Dialekt pflegen und seit 2006 in Untersiggenthal wohnen.

Ennetbadener Bagger wühlen nicht nur Erde auf
«Ich kann mich gut an die Eröffnung des ersten öffentlichen Thermalbads im Jahr 1964 und die Eröffnung des Gartenbads 1981 erinnern. Doch seit den 1980er-Jahren ist kein Stein auf dem anderen geblieben», resümiert Fischli, der während all der Jahre das bewegte politische Geschehen rund um die Bäder und den Wandel der historischen Hotels sowie die Familiengeschichten hautnah miterlebte und dokumentierte.

«Als die Bagger 2004 für die Zentrumsumfahrung in Ennetbaden auffuhren, wurde allen bewusst, dass die Bäder auf der Schwelle zu einem Jahrhundertumbruch standen.» Die Ennetbadener Bagger wühlten jedoch nicht nur die Erde auf. «Sie lösten auch das Projekt ‹Wechselbäder› aus, das zur Spurensicherung der Gegenwart und zu einer Spurensuche in die Vergangenheit wurde», sagt Fischli und betont, dass die Chronik ohne die vielen Mithelferinnen und Mithelfer nie zustande gekommen wäre.

Einer der Mithelfer ist der der Grafiker Erich Perotka, der das Buch lesefreundlich gestaltet hat. Ein anderer ist der ehemalige und langjährige Redaktor des «Badener Tagblatts», Dieter Minder. Der inzwischen 73-Jährige konnte als Journalist und Ur-Badener viel Wissen über die Geschichte der Bäder auf beiden Seiten der Limmat dazu beitragen. Gemeinsam verbrachten sie seit 2002 unzählige Stunden, wenn nicht Tage oder Wochen in Archiven, Museen, holten Auskünfte bei Privaten ein, nahmen sich Grundbüchern an, entdeckten Protokollbände und überprüften das Gesammelte, das verwendet und teils verworfen wurde.

Historiker loben seinen kritischen Blick
Dabei herausgekommen ist dieses gesammelte Werk, das – trotz oder gerade wegen des kritischen Blickes auf die Geschichte – laut Fischli bei Historikern für sehr gute Rezensionen gesorgt hat. «Kritisch schreiben kann nur derjenige, der sich mit der Materie identifizieren kann, der hinschaut und auch darüber berichtet, was nicht gut läuft», so Fischli. Beim Durchstöbern des Buches, oder «Schneugge», wie Fischli sagt, wird schnell klar: Dieses Werk liest man häppchenweise. Angefangen mit dem «Amuse-Bouche für Badenfahrende», über das währschafte Kapitel «Bäder, Baden, Ennetbaden» bis hin zu den luftig leichten Badesitten, Quellgöttern und der teils «schwer verdaulichen» Kost über die Hotels und deren Familien – Fischli und Minder ist ein Werk gelungen, das einen Zeitbogen über die geologischen Urzeiten bis in unsere Tage schlägt. Die Feder niederlegen will Fischli nicht. Wie er verrät, will er nach der Kleinauflage des ersten Buches – ein Werk, das es in dieser Form übrigens noch nie gab – noch weitere Bände erschaffen. Und zwar ganz nach seinem Lebensmotto, das ihm von seiner Stiefmutter weitergeben wurde: «Wenn du es nicht versuchst, wirst du nie wissen, ob du es kannst.»

Die Chronik «Wechselbäder» ist bei Bücher Doppler in Baden erhältlich.

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Grosses Arrivée beim Verenahof mit angemessener Limousine, 1978. Direktor Willy Keller (beim Eingang) begrüsste die Gäste jeweils persönlich vor dem Hotel. (Bilder: Ruedi Fischli | Archiv Drei Eidgenossen)

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Der «Grosse Bären» in seiner ganzen Pracht – mit Concierge. Bis 2011 verband eine die Strasse überspannende Passarelle den Grossen Bären mit dem «Kleinen Bären». Eine Werbeaufnahme von Ruedi Fischli für den Tourismusverein Baden-Ennetbaden.

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Alltag in den Kleinen Bädern in den 2000er-Jahren: Die tägliche Verkehrslawine, die sich an den Badhotels vorbeiwälzte, brachte jegliches Kurleben zum Ersticken. Flaniert man heute auf der Ennetbadener Limmatpromenade, kann man sich dies gar nicht mehr vorstellen.

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Einfahrt zu den Grossen Bädern, 1925. Das Badhotel, vormals Römerhof (Rössli). Im Parterre das Speiserestaurant «Guye», daneben die Confiserie und im 1. Stock die «Old India-Bar». Hinten die Drei Eidgenossen mit Tor, rechts der Bäderkiosk. Im Saal des Eden fanden jeweils die legendären Tanzveranstaltungen und Fasnachtsbälle statt. Für Heiratswillige ein Muss.

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Eleganz im Thermalschwimmbad im Limmathof, um 1980. Damals waren Badekappen noch obligatorisch und top-modisches Accsessoir. Eine Werbeaufnahme von Ruedi Fischli für den Tourismusverein Baden-Ennetbaden.

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Das Römerbad (Palais Dorer) in den Grossen Bädern, um 1960. Die Werbung versprach: «Modernst eingerichtetes Passantenbad, Fango, Wickel, Massage, Liegekabinen, TV, Parkplatz». Betonung auf Parkplatz und TV! Heute steht hier das Fortyseven.

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Jugendstilplakat vom Hotel Schwanen in Ennetbaden.

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