Archäologen stossen auf Scherbenteppiche

Rettungsgrabung der Kantonsarchäologie auf dem Steinacher zwischen Turgi und Gebenstorf: Auf dem römischen Grossbau, der die Fläche eines halben Fussballfelds abdeckt, kämpfen 15 Mitarbeitende im Wettlauf gegen die Zeit. Eine Reportage.
Auf dem Steinacher zwischen Gebenstorf und Turgi arbeiten 15 Mitarbeitende auf Hochtouren. (Bilder: mp)

Wer auf der Vogelsangstrasse in Gebenstorf unterwegs ist, bemerkt sie schnell, die halbrunden weissen Zelte auf dem Baustellenareal des Steinachers. Hier arbeiten derzeit 15 Ausgräberinnen und Ausgräber, Zeichnerinnen und Zeichner sowie Archäologinnen und Archäologen unter der wissenschaftlichen Leitung von Erik Martin. Der 37-Jährige ist selbst in Turgi aufgewachsen und wohnt heute in Basel. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. «Wir haben zwei Zeitfenster zur Verfügung, um eine Fläche von 3200 Quadratmetern zu untersuchen», erklärt Martin, «dieses Jahr bis November und dann ab März 2025 wieder drei Monate.»

Schon seit einigen Jahren wissen die Archäologen von einer grossen römischen Siedlungsstelle an diesem Ort. Geomagnetische Untersuchungen zeigten ein dichtes Mauergeflecht, erste Sondierungs- und Grabungsarbeiten in den Jahren 2019 und 2020 bestätigten das Vorhandensein römischer Mauern. Nun arbeitet sich das Team systematisch über die Gesamtfläche und teilt diese dabei in 66 kleinere Felder auf.

Der Pinsel kommt zum Schluss
Die Anfangsarbeiten sind aber weit vom Klischee des pinselnden Archäologen entfernt. «Bei einer Rettungsgrabung dieser Grösse müssen wir eine gute Mischung finden zwischen schnellem Arbeiten, um auf den archäologischen Befund zu kommen, und anschliessend feineren Arbeiten an Orten, wo das erforderlich ist», so Martin. Deshalb kommt zunächst die Baggerschaufel zum Einsatz, die unter dem wachsamen Auge der Archäologen die obersten Schichten grossflächig aushebt. Das erfordert viel Erfahrung, weil mit Blick in die Schaufel beurteilt werden muss, ob man zu viel oder zu wenig abgetragen hat und ob die hervortretende Schicht bereits archäologisch wertvoll sein könnte. Erst nach dieser Grobarbeit kommen kleinere Werkzeuge zum Zug: Pickel und Schaufel, später auch Pinsel und Schwamm.

Hilfe aus Nussbaumen
Für all diese Arbeiten ist das Kernteam der Kantonsarchäologie nicht ausreichend. «Eine solche Grabung wird als Projekt durchgeführt, viele Archäologen sowie Ausgräber und Zeichner sind Projektangestellte, also freie Mitarbeitende», berichtet Martin. Auch in Gebenstorf hat sich ein solches Team aus der ganzen Schweiz zusammengefunden, darunter Michael Müller (50) aus Nussbaumen. Er hat als Ausgräber an verschiedenen Projekten in mehreren Kantonen mitgearbeitet, unter anderem an den Grabungen im Bäderquartier 2009/2010. «Jede Grabung hat ihre eigene Chemie, es ist ein Mikrokosmos von Menschen unterschiedlicher Herkunft, und alle verbindet das gemeinsame Interesse an der Grabung», erklärt er. Als Ausgräber geniesst er die Arbeit draussen in der Natur und lässt sich jeden Tag aufs Neue von den Funden überraschen. «Es ist das Unerwartete, das diesen Beruf so spannend macht, man weiss nie, was man findet – und die Zeit vergeht wie im Flug, Langweile oder Alltagsroutine gibt es nicht.» Das bestätigt Erik Martin: «Was alle Archäologen und Archäologinnen verbindet, ist die Neugierde – und es gibt wenige Berufe, die eine so grosse Vielfalt bieten.» Natürlich hoffe man immer auf einen speziellen Fund. «Gerade vor einigen Tagen haben wir ein schönes Henkelstück aus Glas gefunden, nahezu intakt», sagt Michael Müller erfreut.

Die Mitarbeitenden der Kantonsarchäologie sowie freiwillige Helfende graben im Wettlauf gegen die Zeit.

Baufunde werden zerstört
Das Ziel der Rettungsgrabung umfasst das Ausgraben, das Dokumentieren und das Archivieren – die eigentliche Auswertung findet zu einem späteren Zeitpunkt statt und nimmt wiederum Monate oder Jahre in Anspruch. «Alles, was Substanz ist, also nicht bewegbar, lassen wir vor Ort», erklärt Erik Martin, «also Gebäudeteile, Mörtelböden oder Mauern. Diese sogenannten Befunde werden später in der Bauphase leider zerstört.» Die beweglichen Funde hingegen, wie beispielsweise Keramik oder Alltagsgegenstände, werden gesammelt, gereinigt, inventarisiert und archiviert. Dabei arbeiten die Ausgräber mit Zeichnungen, auf denen kleinere Flächen und Schichten innerhalb der Grabungsfelder mit sogenannten Positionen benannt werden. «Jede Position erhält eine Nummer, und jedes Stück, das wir dort finden, wird unter dieser Nummer archiviert», erklärt Martin. Damit kann jedes einzelne Stück jederzeit eindeutig seiner Fundstelle zugeordnet werden. In einem Containerraum auf der Grabungsstelle selbst findet die Fundbearbeitung statt: Die Fundstücke werden gereinigt, fotografiert und inventarisiert und dann in Behältern der Archivierung zugeführt.

Eine Wegwerfgesellschaft
Bis anhin haben die Ausgräber nebst dem Mauerwerk überwiegend Keramik gefunden. «Wir sind auf sogenannte Scherbenteppiche gestossen», erklärt Erik Martin. Unter einer Zeltplane findet sich auf einer Fläche von rund 10 mal 2 Metern eine grosse Menge an zerschlagenen Amphoren und Dachziegeln sowie Mörtelstücken. Die Herkunft der Amphoren konnte schon bestimmt werden; sie kommen grösstenteils aus dem Mittelmeerraum, also aus Südfrankreich oder Spanien, wenige Stücke aus dem Ostmittelmeerraum. Möglicherweise wurden grosse Mengen von Waren über die Flüsse Rhone, Rhein und Limmat transportiert und hier in Gebenstorf auf leichtere Transportbehälter umgeladen. «Wir haben es vor allem mit grossen Gefässen zu tun, die für den Transport von Fischsauce, Olivenöl oder Wein verwendet wurden», führt Martin aus. «Die römische Gesellschaft war eine Wegwerfgesellschaft, die Amphoren waren Einweggebinde, die man nach dem Umladen nicht mehr wiederverwendet, sondern zerschlagen und entsorgt hat.»

Umschlagplatz oder Siedlung?
Während somit Keramikscherben in eindrücklicher Zahl vorhanden sind, fehlen mehrheitlich Alltagsgegenstände wie Koch- und Essgeschirr, Reibeschalen und Krüge, ebenso Tierknochen. Das ist ein Hinweis darauf, dass es sich hier eher nicht um eine zivile Siedlung handelt. «Im Grabungsfeld nebenan haben wir zwei Mauern gefunden, die in einer Distanz von 15 Metern parallel verlaufen, und in der Mitte befanden sich sicher drei Stützpfeiler», führt Martin weiter aus. «Wir gehen wegen der Grösse und der Stützen davon aus, dass es sich um einen hohen Raum mit Gewölbedach gehandelt haben könnte, wobei die Wände mit Mörtel verarbeitet und mit einem sogenannten Fugenstrich dekoriert wurden.» Die Grundrisse entsprechen einer Lagerhalle im sogenannten Vicus Lousonna, einer römischen Siedlung im heutigen Lausanner Quartier Vidy, das als Warenumschlagplatz diente. Jürgen Trumm, wissenschaftlicher Grabungsleiter der Kantonsarchäologie Aargau, hat bereits bei den Grabungen in Vindonissa nach einem solchen Gebäude gesucht, und die bisherigen Funde deuten darauf hin, dass die Siedlung in Gebenstorf aus der Laufzeit des Militärlagers stammt, also aus der Zeit zwischen 25 und 100 nach Christus.

Ob es sich auch hier um eine Lagerhalle gehandelt hat, kann jedoch noch nicht gesagt werden. «Wir sind erst am Beginn der Arbeiten», erinnert Erik Martin, «und wir haben erst einen kleinen Teil der Fläche freigelegt.» Es bleibt spannend, was in den kommenden Wochen und Monaten noch zum Vorschein kommen wird. Wie Michael Müller sagt: «Es ist, als ob man eine Zeitreise macht.»

Hinweis an die Bevölkerung: Die Grabungen werden von Drohnenflügen begleitet, die jedoch nur das Grabungsgrundstück filmen und auswerten.

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Michael Müller aus Nussbaumen, Helfer. (Bilder: mp)

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Der Scherbenteppich im Detail.

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Mauer mit Mörtel und Fugenstrich, der als Dekoration verwendet wurde.

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Eine gut erhaltene römische Mauer.

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Der Fundort wird mithilfe eines Rasters skizziert.

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Der Fundort wird mithilfe eines Rasters skizziert.

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