«Das Spielen ist ein zentraler Aspekt»

Die Flüchtlingstage (15./16. Juni) wollen die Bevölkerung sensibilisieren. Dieses Jahr liegt das Augenmerk auf den Kindern, die eine Flucht erleben mussten.
Vorn: Elisabeth Brönnimann, Co-Leiterin Contact Brugg vom Verein Netzwerk Asyl Aargau; Cécile Bernasconi, Leiterin Stadtbibliothek Brugg; Rolf Zaugg, Pfarrer der reformierten Kirche Brugg; hinten: Nadine Ringele, regionale Integrationsfachstelle Brugg; Luisa Fehlmann, Co-Leiterin der regionalen Integrationsfachstelle Brugg, beim Gespräch in der Stadtbibliothek Brugg. (Bild: cd)

Elisabeth Brönnimann, Sie waren 25 Jahre lang für die Organisation des Flüchtlingstags verantwortlich.  Nun wird sie vom Brugger RIF-Team (Regionale Integrationsfachstellen) übernommen. Fällt Ihnen diese Stabübergabe schwer?
Es freut mich, dass die Organisation nun vom RIF-Team übernommen wird. Ich erinnere mich an viele gelungene Aktionen, unterstützt durch ein grosses Freiwilligenteam. Die Begegnungen auf dem Neumarkt und das gemeinsame Essen haben die Besuchenden immer sehr geschätzt.

Was ist das Ziel der nationalen Flüchtlingstage?
Brönnimann: Das Ziel ist grundsätzlich die Sensibilisierung der Bevölkerung für die Problematik von Flüchtlingen und Asylsuchenden.

Welche Problematik sprechen Sie an?
Rolf Zaugg: Die Flüchtlingsproblematik ist ein Thema, das gern an den Rand gestellt wird. Es ist nicht attraktiv, sich dort zu engagieren. Es braucht Rückgrat, man muss Position beziehen können, um zu sagen: Diese Menschen sind uns wichtig, sie sollen grundsätzlich willkommen sein, ich möchte mich dafür engagieren, und den Rest diskutieren wir dann in einem zweiten Schritt. Die Stimmung wird oft davon getragen, dass es heisst, sie sind ein Störfaktor, ein Problem.
Brönnimann: Das ist aber nichts Neues, das war schon immer der Fall. Ich erlebe es seit den 80er-Jahren so, als ich mit dieser Freiwilligenarbeit anfing.
Zaugg: Ich erlebe es so, dass die Engagierten ein eingeschworener Club sind. Das durchlässiger zu machen, wäre für mich das Ziel eines solchen Flüchtlingstags. Deswegen haben wir ein niederschwelliges Programm gewählt.

Wie kam die Zusammenarbeit für dieses Programm zustande?
Luisa Fehlmann: Eine unserer Aufgaben ist, die Freiwilligenarbeit im Integrationsbereich zu koordinieren. Wir besuchten alle Institutionen in der Region, die Freiwilligenarbeit leisten. So lernte das dreiköpfige Team der RIF Brugg Cécile Bernasconi, Elisabeth Brönnimann und Rolf Zaugg kennen. Wir haben den Pastoralraum Region Brugg-Windisch, Pfasyl Aargau, Public Viewing Brugg, die reformierte Kirche Brugg, die reformierte Landeskirche Aargau und die Stadtbibliothek Brugg an Bord geholt.

Das diesjährige Motto der nationalen Flüchtlingstage, «Kind sein dürfen, auch nach der Flucht. Alle Kinder haben die gleichen Rechte.», ist ein ausführlicher Leitsatz – andere Veranstaltungen wählen oder kreieren einen einzigen Begriff.
Luisa Fehlmann: Das Motto legt die Schweizerische Flüchtlingshilfe fest, die als Dachorganisation hinter den Flüchtlingstagen steht. Die Kantone und die Regionen übernehmen dieses nur. Vorgaben zur Umsetzung des Themas gibt es aber kaum. Wichtig ist, dass sich die Angebote im Kanton nicht gegenseitig konkurrenzieren.

Wie gelingt es, sich bei einem so eng definierten Motto nicht gegenseitig zu konkurrenzieren, was bedeutet das für die Programmgestaltung?
Fehlmann: Da wir erst im Januar dieses Jahres mit dem Aufbau der Inte­grationsfachstelle in der Region Brugg begannen, haben wir uns bewusst entschieden, das Programm der Flüchtlingstage einfach zu gestalten. Wir haben den Fokus auf einen für uns zentralen Aspekt der Kindheit gelegt: das Spielen. Ein Programm dazu auf die Beine zu stellen, war einfach. Die grössere Herausforderung ist, dass wir auch Kinder aus Asylunterkünften erreichen.

Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Public Viewing Brugg, das vom Gewerbeverein Brugg organisiert wird?
Fehlmann: Zuerst sind wir ein bisschen erschrocken, als wir erfuhren, dass am Samstag, 15. Juni, das Public Viewing zum EM-Spiel Schweiz gegen Ungarn auf dem Eisi-Platz stattfindet. Dann wurde uns bewusst, dass Fussball viel mit dem Thema Integration zu tun hat. Wir fragten beim Gewerbeverein an, ob wir uns mit unserem Programm anhängen dürften. Unsere Idee wurde offen aufgenommen.
Nadine Ringele: Wir führen jetzt unser Programm für die Kinder während des Public Viewings in der Nähe des Eisi-Platzes durch: Outdoor-Spiele, Glitzertattoos aufmalen, Freundschaftsarmbänder knüpfen, grosse Seifenblasen machen und Buttons herstellen sowie im kleinen Fussballparcours spielen, während die Erwachsenen bei der Festwirtschaft das EM-Spiel schauen.

Zusammen Fussball spielen oder ein Spiel zusammen schauen, schafft ein Gemeinschaftsgefühl.
Fehlmann: Wir erhoffen uns durch die Zusammenarbeit mit dem Public Viewing, Menschen zu erreichen, die sonst nicht an einen Flüchtlingstag gehen würden. Fussball als verbindendes Element birgt eine grosse Integrationskraft. Der Sport ist global bekannt und kann Menschen unabhängig von ihrer Herkunft und Sprache miteinander verbinden. Und Kinder mit einem Ball können überall Fussball spielen und sich über den Sport verständigen. Das Recht auf Freizeit, Spiel und kulturelle Teilhabe wird dabei gefördert. Insofern ist die Rolle von Fussballvereinen sehr bedeutungsvoll in Bezug auf Integration und Kinderrechte.

Kinderrechte sind im zweiten Satz im Motto angesprochen: «Alle Kinder haben die gleichen Rechte.»
Fehlmann: Wir haben uns hier an der UNO-Kinderrechtskonvention orientiert, wo es heisst, dass alle Kinder ein Recht auf Freizeit, Spiel und kulturelle Teilhabe haben.

Die kulturelle Teilhabe kommt vor allem in der Stadtbibliothek Brugg zum Zuge. Viele Kinder können unsere Sprache noch nicht. Stellt das eine hohe Schwelle dar?
Cécile Bernasconi: Alle Kindergartenkinder kommen regelmässig in die Bibliothek. Das haben wir eta­bliert. Es gibt Kinder, die noch nicht genügend Deutsch können. Gerade Kindergartenkinder können aber sehr gut mit Bilderbüchern abgeholt werden. Deshalb haben wir Bilderbücher in verschiedenen Sprachen. Es gibt kein Kind, das nicht gern in eine Bi­bliothek geht. Oft bringen sie ihre Eltern mit in die Bibliothek, um ihnen diese Bilderbücher zu zeigen. So funktioniert die Teilhabe sehr niederschwellig, sie ist ein wichtiger Inte­grationsfaktor.

Kommen wir nochmals auf das ganze Motto zu sprechen. Es ist sehr sperrig und wirkt etwas verkopft.
Zaugg: Diese Leitsätze sind wirklich nicht immer so griffig, und das diesjährige ist in der Tat sperrig. Ich merke das bei der Umsetzung für den Gottesdienst. Ein zweizeiliger Titel als Motto – das ist anspruchsvoll.

Wie wird der Gottesdienst aussehen?
Zaugg: In der Predigt werden Kinder das Thema sein, es wird jedoch kein eigentlicher Familiengottesdienst sein, sondern sich an ein gemeinsames Publikum richten. Alle Kinder brauchen Freiräume zum Spielen, auch geflüchtete Kinder. Das soll hauptsächlich älteren Menschen nähergebracht werden.
Fehlmann: Ich finde es begrüssenswert, dass der Fokus dieses Jahr auf den Kindern in Asylunterkünften in der Schweiz ruht. Unbegleitete minderjährige Ausländer und ihre Situation werden oft in den Medien erwähnt, aber begleitete Kinder nach der Flucht sind viel weniger ein Thema.
Ringele: Es wird davon ausgegangen, dass diese Kinder durch ihre Eltern und Geschwister ein Beziehungsnetz haben. Aber diese Bezugspersonen sind auf der Flucht gewesen und müssen sehr viel verarbeiten. Die Kinder sind den gleichen Weg wie sie gegangen und können nicht gleich unbeschwert Kind sein wie Kinder, die das nicht erlebt haben.

Freizeit, Spiel und kulturelle Teilhabe: Kann ein Kind, das durch Erlebnisse vor, während und nach der Flucht vermutlich traumatisiert ist, einfach wieder Kind sein? Ist es nicht wirklichkeitsfremd oder gar gönnerhaft, wenn Erwachsene «Kind sein dürfen, auch nach der Flucht» als Motto vorgeben für Kinder, deren Kindheit auf der Flucht verloren ging?
Zaugg: Ich habe bei syrischen Flüchtlingen viele extrem schwer traumatisierte Kinder erlebt. Völlig entwurzelte Kinder, die keine Chance hatten, eine Beziehung aufzubauen, weil jede potenzielle Bezugsperson ein potenzieller Mörder sein könnte.

Was brauchen diese Kinder am dringendsten?
Bernasconi: Ich stelle nach wie vor fest, dass Kinder einfach einen normalen Alltag brauchen, um sich sicher zu fühlen, und natürlich ein möglichst stabiles Umfeld. Die Frustrationen und Verunsicherungen der Erwachsenen in Asylsituationen übertragen sich natürlich eins zu eins auf die Kinder.
Fehlmann: Wir möchten mit diesem Motto auf die Situation von geflüchteten Kindern aufmerksam machen. Was auf der Flucht geschehen ist, können wir nicht rückgängig machen. Was wir in der Schweiz aber sehr wohl beeinflussen können, ist die Situation, welche die Kinder hier vorfinden: beispielsweise die Unterbringung in Asylunterkünften. Hier sehen wir Verbesserungspotenzial. Wirklichkeitsfremd wären für uns Resi­gnation und Nichtstun.

Elisabeth Brönnimann, Sie sind als Freiwillige seit über 40 Jahren im Asyl- und Flüchtlingswesen tätig. Was hat sich verändert?
Brönnimann: Der Ukrainekrieg in unserer Nähe verunsichert. Zu Beginn erhielten wir viele Anfragen von Freiwilligen. Zwei Jahre sind vergangen, und die Geflüchteten sind noch immer in der Schweiz, dabei dachten viele, dass eine Rückkehr bald wieder möglich sei. Die Integration, gerade auch über die Arbeit, gelang nur teilweise. Auf beiden Seiten macht sich eine gewisse Ernüchterung breit, die ungewisse Zukunft ist belastend. Jetzt braucht es Durchhaltewillen, und Freiwilligenarbeit ist umso wichtiger, je länger die Situation dauert.

Wie gehen Kinder mit dieser Situation um?
Brönnimann: Im Gegensatz zu den Erwachsenen finden sich Kinder schneller mit Veränderungen zurecht. Sie fassen schneller Fuss, schliessen Freundschaften, sind stolz auf ihre schulischen Leistungen, und viele sprechen schon gut Deutsch.

Wo sollen sich Personen melden, die sich engagieren möchten?
Fehlmann: Am besten bei den RIF. Wir koordinieren das Freiwilligenengagement, nehmen Ideen entgegen, helfen bei der Umsetzung von verschiedenen Projekten und haben dafür auch ein Budget zur Verfügung. 
Brönnimann: Bei Contact Brugg besteht zudem die Möglichkeit, bei der freiwilligen Kinderbetreuung, in der Cafeteria oder im Deutschunterricht zu schnuppern.