«Tischlein deck dich» rettet Lebensmittel

Die Lebensmittel-Abgabestelle in Brugg existiert seit 15 Jahren. Heute verteilt sie wöchentlich Essen an etwa 50 Haushalte in der Region.
Ursula Mettler in der Rüsterei des Logistikzentrums Staufen. (Bild: mpm)

Ganz so einfach wie in Grimms Märchen geht es nicht: Die blossen Worte «Tischlein, deck dich» reichen nicht aus, um jede Woche an fast 160 Abgabestellen sozial Schwächere in der ganzen Schweiz mit Essen zu beliefern. Ein Heer von Freiwilligen, Zivildienstleistenden, Teilnehmenden von Beschäftigungsprogrammen und Angestellten macht es möglich, dass der Verein Tischlein deck dich Esswaren, die der Handel nicht verkaufen konnte, weiter verteilen kann.

Nebst regionalen Abgabestellen in Baden, Birr, Lengnau und Wettingen gibt es auch in Brugg in den Räumlichkeiten der römisch-katholischen Kirchgemeinde eine Abgabestelle. Diese feierte im Mai ihr 15-jähriges Bestehen. «Wir sind heute ein Team von 26 Personen», erklärt Reto Candinas (70). Der pensionierte Raumplaner und Gemeinderat von Windisch leitet zusammen mit Elfi Mazenauer (70) die Abgabestelle, die wie ein temporärer Laden funktioniert: Nach Vorweisen einer speziellen Kundenkarte, die bei verschiedenen Sozialfachstellen nach Prüfung der Lebensverhältnisse bezogen werden kann, und gegen den symbolischen Preis eines Frankens erhalten die Kunden und Kundinnen Woche für Woche gerettete Lebensmittel. «Darunter sind Working Poor, Familien, Alleinerziehende, Pensionierte und Menschen, die eine Sozialhilfe oder Invalidenrente beziehen», weiss Dina Hungerbühler, Leiterin der Kommunikation von Tischlein deck dich.

Gastronomie, Grossverteiler und regionale Kleinproduzenten
Die Lebensmittel kommen grösstenteils von Grossverteilern wie beispielsweise Coop. Seit der Verein im November 2023 ein neues Logistiklager in Staufen, in unmittelbarer Nähe zur Verteilerzentrale von Coop in Schafisheim, eröffnet hat, fahren mehrmals täglich Shuttlebusse des Vereins den Weg zwischen den beiden Zentren hin und zurück.

«Wir arbeiten als freiwillige Fahrer und Fahrerinnen in 5-Stunden-Diensten», erzählt Adrian Gloor (67). Während seine Frau in der Rüsterei Einsätze leistet, hat der ehemalige Informatiker sich als freiwilliger Fahrer gemeldet. «Wir können wählen, ob wir den Shuttleservice bedienen oder die Abgabestellen beliefern möchten.» Der Fahrdienst ist körperlich anstrengend, vor allem der Shuttledienst, weiss Adrian Gloor. «Wir laden immerzu vollgepackte Rollwagen mit Esswaren ein und aus, das können pro Schicht bis zu 30 Container sein. Aber alle sind sehr hilfsbereit, das ist schön.»

Mehrmals täglich sind die Transportbusse des Vereins unterwegs. (Bild: mpm)

8 Tonnen Lebensmittel pro Tag
Das Logistiklager in Staufen verfügt über verschiedene Kühl- und Tiefkühlräume, eine grosse Rüsterei und ein Lager für Trockenware. Die mit Esswaren vollgepackten Rollwagen der Grossverteiler gelangen erst in einen Kühlraum, werden dann in der Rüsterei triagiert und bearbeitet und anschliessend in einem weiteren Kühlraum für den Transport in die Abgabestellen bereitgestellt oder weiter gelagert, sofern es nicht verderbliche Ware ist.

«Wir verarbeiten im Schnitt pro Tag acht Tonnen Lebensmittel», erklärt Bianka Allenspach (51), Leiterin Personal Nordwestschweiz, «der Rekord waren 13 Tonnen – an einem Tag.» Unmengen von Salat, Gemüse und Früchten werden hier von rund 160 Freiwilligen an sechs Tagen in der Woche in 2-Stunden-Schichten aufbereitet, knapp ein Drittel landet in der Biogasverwertung, der Rest wird verteilt. «Die Menge an Lebensmitteln, die wir hier bekommen, ist schon beinahe erschreckend», berichtet Ursula Mettler (68), die ehrenamtlich in der Rüsterei arbeitet. «Wir haben hier teilweise Kisten mit Lebensmitteln, die den Weg gar nie in den Laden gefunden haben. Ich frage mich manchmal, ob diese Überproduktion wirklich nötig ist. Auch die Produktion ausserhalb der Saison: Mandarinen und Erdbeeren oder Kirschen werden gleichzeitig produziert.»

Bianka Allenspach zeigt sich ebenfalls von der grossen Menge beeindruckt. «Manche Produkte, die wir im Trockenlager haben, sind bis weit ins Jahr 2025 haltbar», weiss die ehemalige Eventmanagerin. Sie wurden aussortiert, weil sie beispielsweise wegen eines Etikettenfehlers nicht in den Verkauf gelangen konnten oder weil schlicht zu viel bestellt wurde. Ist die Triage erfolgt, muss für jede Abgabestelle eine gute Mischung aus Waren zusammengestellt werden, wobei für die Planung ungefähr 3,5 Kilogramm Waren pro Kundenkarte gerechnet werden. «Wir versuchen, ein abwechslungsreiches Angebot zusammenzustellen», so Allenspach, «aber wir können natürlich nicht bestimmen, was wir erhalten – wir nehmen, was kommt.»

Vorbereiten der Lebensmittel für die Abgabe. (Bild: mpm)

Entlastung fürs knappe Budget
Das Lager in Staufen bedient 17 Abgabestellen in der Region Nordwestschweiz. Zum Bezug von Waren sind Menschen an oder unter der Armutsgrenze berechtigt, die sich durch die Abgabe von vergünstigten Lebensmitteln ein kleines Extra leisten können. «Manche können dadurch beispielsweise ihren Kindern einen Eintritt ins Schwimmbad zahlen oder den Enkeln ein Spielzeug kaufen», hält Reto Candinas fest. Wer denkt, in der reichen Schweiz sei das nicht nötig, irrt. «Im Jahr 2023 haben wir Lebensmittel für etwa 1,8 Millionen Menschen bereitgestellt, wobei hier auch Mehrfachzählungen oder Feiertagsabgaben enthalten sind», sagt Dina Hungerbühler, «insgesamt beliefern wir Woche für Woche rund 35 600 Haushalte mit geretteten Produkten.»

Diese soziale Komponente des Hilfswerks ist – neben dem Gedanken der Rettung von Lebensmitteln – einer der Gründe, weshalb viele Freiwillige mitmachen. «Es ist einfach sehr schön zu sehen, wie viel Freude man damit jemandem machen kann, wir spüren ausserdem sehr viel Dankbarkeit», sagt Reto Candinas erfreut. Mit viel Liebe fürs Detail und viel Engagement werden in der Abgabestelle Brugg die Esswaren hergerichtet: Gemüse, Joghurt, Schokolade, Chips, Limonaden, eingelegte Gurken, Brot und vielerlei mehr stapeln sich auf den Tischen. Ein Tageschef oder eine Tageschefin entscheidet aufgrund der zur Verfügung stehenden Esswaren, wie viel von jedem Produkt pro Kundenkarte bezogen werden darf. Damit ist sichergestellt, dass niemand zu kurz kommt. «Wir geben am Eingang Eintrittskarten mit einem Zeitfenster aus», erklärt Elfi Mazenauer, denn man wolle nicht nach dem Prinzip «first come, first served» verteilen, es solle gerecht sein. «Manchmal ist die Mengenbemessung eine Herausforderung, zum Beispiel wenn wir nur 20 Packungen Kaffee haben und wissen, dass draussen 53 Kunden warten – dann richten wir uns nach der Anzahl Personen, für welche die Karte ausgestellt wurde.»