Auf den Geschmack des Barfussgehens kam Roman Gull, als er im Mai 2019 auf dem legendären Jakobsweg als Pilger unterwegs sein wollte. Drei Monate vor dem Start verdrehte er sich sein rechtes Knie, und diverse Bänder rissen. Gull suchte nach Möglichkeiten, ohne Operation trotzdem den Camino zu bestreiten. «Dabei stiess ich auf Barfussschuhe (Minimalschuhe), studierte deren Vorteile und die möglichen Auswirkungen auf körperliche Gebrechen und Muskelaufbau. Ich kaufte mir meine ersten zwei Paare und ging den Jakobsweg in diesen Barfussschuhen. Ich war begeistert. Kurze Zeit später lernte ich den Ausbildner der Barefoot Academy (heute Barfussschule) kennen und liess mich zum Barfusscoach ausbilden. Seit der ersten Ausbildung verzichtete ich immer mehr auf Schuhe, heute bin ich fast nur noch barfuss unterwegs», so der 48-Jährige.
Ein Zeichen der Armut
Lange Zeit galt Barfüssigkeit als Zeichen der Armut. Ausschliesslich die Reichen konnten sich Schuhe leisten. Auf alten Gemälden kann man den Status der Personen zudem an ihren Füssen und Schuhen erkennen. Wer also barfuss unterwegs war, war arm und stand unter dem Pantoffel der Reichen. Ausserdem hat das Barfusssein an bestimmten Orten etwas mit Ehrfurcht zu tun. Gläubige Muslime ziehen zum Beispiel vor dem Gebet ihre Schuhe aus, um in Ehrfurcht vor Gott zu beten. Aber weshalb sind wir doch bei Schuhen gelandet? Die Natur ist von unserer Zivilisation geprägt, und in den Städten beherrschen inzwischen kilometerlange heisse Asphaltstrassen das Bild. «Früher schützten wir uns tatsächlich mit Pflanzen- oder Lederwickeln. Irgendwann wurden Schuhe erfunden, über den Leisten gezogen, spitz zulaufend und mit hohem Absatz, um Reichtum und Adel zu repräsentieren. Diese Fragen sollte man sich aber stellen: Wieso haben Schuhe einen Absatz und eine Sprengung? Weshalb sind sie so hart und eng, dass unser Fuss gar nicht mehr arbeiten kann? Es fängt bei den Kindern an und zieht sich durchs ganze Leben: der viel zu enge Schuh, der die natürliche Haltung verändert und Muskeln schwinden lässt», ergänzt der Barfusscoach.
Stressfrei gehen
Gull gefiel anfangs der Gedanke des Freilaufens. Frei von Druck, Stress oder Zielvorgaben wie Kilometer, Zeiten, Kalorienverbrauch und anderem. Deshalb waren seine ersten Ausbildungen nicht von Technik und Laufanalyse geprägt, sondern von der mentalen Einstellung, der Entspannung, der Atmung, der Achtsamkeit. Parallel zu seiner Entwicklung entstand dann die Freilaufmethode, die sich perfekt mit seiner Vorstellung deckte. Natürlich seien Lauftechnik, Ganganalysen und die Bewegung als Zusammenspiel von Knochen, Muskeln und Sehnen wichtige Bestandteile. Gull bietet Kurse, Einzelcoachings und Workshops seit über zwei Jahren in der ganzen Schweiz an. «Weil ich so gute persönliche Erfahrungen mit dem Barfussgehen gemacht habe, wollte ich das unbedingt in die Welt hinaustragen», erzählt der Mülliger. Das Gesamtkonzept des Freilaufens sei so überzeugend, weil es von allem etwas enthalte und nicht jeder Mensch dieselben Bedürfnisse habe. Am besten solle man Kleinkinder so oft wie möglich barfuss gehen lassen, aber auch Personen in bereits fortgeschrittenem Alter dürften sich das Barfussgehen ohne Weiteres aneignen. Es sei schliesslich nie zu spät, bestätigt Gull. In der Schweiz ist die Sache mit dem Barfussgehen langsam angekommen und ist zunehmend beliebt. Deutschland sei diesbezüglich aber viel fortgeschrittener und mehr entwickelt.
So oft wie möglich
Barfuss gehen sollte man, so oft es geht. Das gilt vor allem für Kinder. Unser Gangbild, die Körperhaltung und die Muskulatur verbessern sich, wenn man barfuss oder in Barfussschuhen unterwegs ist. So kann man Beschwerden im Alter vorbeugen. Auch kann man entschleunigen, seine Achtsamkeit verbessern und so Stressoren vermindern. Barfussschuhe sind eine perfekte Basis – Übungen von einem Barfusscoach sind trotzdem sehr zu empfehlen, da das Potenzial grösser ist, als man glaubt. Gull: «Das Interesse an Barfussschuhen wird immer grösser, und viele Physio- und andere Therapeuten empfehlen ihrer Kundschaft das Ausprobieren von Barfussschuhen. Das reine Barfussgehen ist aber relativ unpopulär und gesellschaftlich wenig anerkannt. Es wird eher mit unhygienisch, alternativ und schlechten Manieren gleichgesetzt. Durch diese Randerscheinung halten sich in der Gesellschaft klare Grundsätze bei Fussbeschwerden: Einlagen oder Operation. Dass man aber mit dem Trainieren der Fussmuskeln, dem Mobilisieren von Zehen und Gelenken und dem Neuausrichten des Bewegungsapparats viele Schmerzen und Beschwerden lindern kann, erfährt man leider viel zu selten.»
Einfach anfangen
Welches ist die beste Jahreszeit, um mit dem Barfussgehen anzufangen? «Das ist von Mensch zu Mensch verschieden. Einige denken, die wärmere Jahreszeit sei geeigneter, um in eine Routine zu kommen, bevor man sich an die kälteren Tage gewöhnt. Ich kenne aber viele, die bewusst im Herbst oder Winter die Herausforderung angenommen haben und somit die grosse Hürde gleich am Anfang überwanden», so Gull. Wer zu Hause seine Füsse trainieren möchte, kann am wöchentlichen Onlinefusskurs teilnehmen. Alle Informationen findet man unter freilaufen.ch.