«Mich hat der Tod fest begleitet»

Barbara Schleuniger verlor ihren Bruder durch Suizid. Heute hilft die moderne Mystikerin und freie Theologin Menschen durch ihre Krisen.
Barbara Schleuniger hat ein ganzheitliches, seelsorgerisches Angebot. (Bild: ejo)

Der leichte Duft von ätherischen Ölen steigt in die Nase. Zwei Hängesessel, in denen es sich Plüschtiere bequem gemacht haben, unterteilen den liebevoll dekorierten Raum. Links davon stehen acht Stühle im Kreis, an der Wand lehnen mehrere Schamanentrommeln, und bei der Massageliege stehen Klangschalen in allen Grössen. Barbara Schleuniger setzt einen Kräutertee auf und stellt dunkelrote, getrocknete Apfelringe auf den langen Tisch. Die moderne Seelsorgerin, wie sie sich nennt, hat etwas Besonderes an sich – in ihrer Anwesenheit fühlt man sich sofort wohl und geborgen. 

Die 54-Jährige (1970) aus Ennet­baden hat sich in ihrem bewegten Leben einen grossen Wissensschatz angeeignet und könnte mit ihrem «bunten Gemisch an Diplomen» eine Wand tapezieren. Macht sie aber nicht. Denn Diplome sagen in ihren Augen nicht viel aus, «das Wissen ist ein Schatz, aber dessen Ausübung ist der Schlüssel dazu». Ihr Wissen und ihre Lebenserfahrung bündelt sie zu einer geballten Kraft, mit der die freie Theologin und Wegbegleiterin ihre Klientinnen und Klienten in ihrer Praxis, die sie je nach Therapieansatz auch einfach als Raum bezeichnet, ganzheitlich zu unterstützen versucht.

Schicksalsschläge erschüttern
Ihr Werdegang ist komplex und verwirrt am Anfang ein bisschen – doch er hat einen roten Faden. Die gelernte Apothekenhelferin und Kindergärtnerin hat einen Master in Theologie. Sie hat jahrelange Erfahrung als Fachmitarbeiterin für Jugend- und Konfirmationsarbeit bei der Reformierten Landeskirche Zürich, ist diplomierte Supervisorin und Coach für Erwachsene, Lerncoach für Jugendliche, spirituelle Entwicklungsbegleiterin, Klangschalenpraktikerin, zertifizierte Familientrauerbegleiterin und hat 30 Jahre Praxiserfahrung. «Die körperliche und spirituelle Gesundheit des Menschen war mir stets ein Bedürfnis», sagt Schleuniger nach der Aufzählung und schmunzelt.

Weshalb studiert eine Kindergärtnerin Theologie? «Mich hat der Tod sehr fest begleitet», antwortet sie, während sie den Kopf etwas senkt und für einen Moment innehält. «1994, damals war ich 24 Jahre alt, nahm sich mein zwei Jahre jüngerer Bruder das Leben. Sein Tod kam aus heiterem Himmel und hat mich zutiefst erschüttert.» Damit nicht genug: In ihrem privaten Umfeld gab es unmittelbar danach mehrere Todesfälle, die sie sehr beschäftigten – «entweder durch Unfälle oder Krankheit». Als sie ein fünfjähriges Kindergartenkind aufgrund einer akuten Erkrankung verlor, stellte sie fest, dass niemand, nicht einmal das Fachpersonal im Spital, mit dem Tod dieses kleinen, unschuldigen Kindes umgehen konnte.

Der katholische Grundsatz half ihr nicht
Nach all diesen Schicksalsschlägen und Erfahrungen mit dem Tod geriet Schleuniger in einen Konflikt mit sich selbst. «Krisen können einen sehr nahe zum eigenen Modell von Welt, Sterben und was nach dem Tod ist bringen, oder sie erschüttern das, woran man bisher ‹geglaubt› hat.» Der Tod ihres Bruders zog Schleuniger den Boden unter den Füssen weg. «Ich bin katholisch aufgewachsen, ich war Ministrantin, Lektorin und überhaupt sehr engagiert in der Kirche. Nach dem Tod meines Bruders war nichts mehr wie vorher. Ich war sehr weit weg von Gott und erschüttert in meinem Urvertrauen in das Leben.» Die damals 24-Jährige stand ratlos da und wusste nicht, wie sie diese tiefe Trauer überwinden sollte. «Der angelernte katholische Grundsatz half mir in dieser Stunde nicht. Das Gottesbild war anerzogen, und ich konnte mit dem Bild von Himmel und Hölle nichts anfangen.» Hinzu kam, dass in den 80er- und 90er-Jahren niemand über Depressionen oder suizidale Gedanken sprach. «Auf dem Land waren solche Themen tabu.»

Lange Suche nach Antworten
Also machte sie sich auf die Suche nach Antworten. «Wild und neugierig prüfte ich die unterschiedlichsten spirituellen Ansätze wie die Steiner-Pädagogik oder Yoga und nahm verschiedene Religionen unter die Lupe.» Die Finger weg liess sie von Substanzen wie Ayahuaska, die das Bewusstsein verändern und häufig bei schamanischen Ritualen angewendet werden.

Mit dem Theologiestudium versuchte Schleuniger zu erfahren, was man im Glauben weiss und was man glauben darf. Im Zentrum ihrer Suche stand die Frage nach dem Sinn – dem Sinn hinter dem Leben und hinter diesen unfassbaren Geschehnissen wie etwa dem Kindestod, Kriegen, Hass, Katastrophen und allem anderen Elend, das auf dieser Welt traurige Realität ist. «Wenn so schlimme Sachen geschehen und das katholische Bild stimmt, müsste es doch ein Modell von Leben und Tod geben, in dem all diese Vorkommnisse Sinn machten, sonst hätten wir doch ein völlig sinnloses Dasein», stellte sie die eine These auf. «Wie erklärt es sich, dass Kinder tot, krank oder behindert auf die Welt kommen können?», fügt sie an und schaut fragend in Richtung Himmel.

Ihre tiefste Erkenntnis
Haben Sie während des Studiums Antworten erhalten? «Nein», sagt Schleuniger und lacht, «aber es war sehr spannend, und ich habe in der Zeit eine wahnsinnige Resilienz entwickelt. Ich konnte mein Urvertrauen Stück für Stück zurückgewinnen und habe keine Angst mehr vor dem Leben.» Zudem hat ihr das universitäre Studium viel Selbstvertrauen geschenkt: «Im Schulwesen hat man als Kindergärtnerin, eine naive Spieltante, kein wirklich grosses Ansehen», so Schleuniger, die sich mit der Philosophie und der Dogmatik auskennt, eine grosse Ahnung von Ethik und Seelsorge hat und den geschichtlichen Zusammenhang versteht.

Ihre tiefste Erkenntnis aus der Suche nach Antworten? «Ich habe erkannt, dass es im Leben sehr viele Zufälligkeiten gibt, deren Sinn mir niemand geben kann. Ich allein habe die Hoheit über mein Leben und entscheide, welchen Geschehnissen ich Bedeutung oder Sinn schenken will.» Dabei müsse man sich seinen eigenen Werten bewusst sein. «Ich hinterfrage mich immer wieder kritisch – lebe ich nach meinen Werten,  wie authentisch bin ich?» Ihre Spiritualität habe sich in den letzten Jahren wiederholt verändert und sich zu einer Art «Patchwork-Spiritualität» entwickelt, geprägt von alten Weisheitslehren, Naturspiritualität und christlichen und buddhistischen Werten. «Sie basieren darauf, dass alles Energie beziehungsweise Schwingung und miteinander verbunden ist. Gedanken, Worte und Töne sind Frequenzen, die den Menschen in seiner Ganzheit berühren. Freude und Leichtigkeit prägen meine Arbeit.»

Barbara Schleuniger in ihrer Praxis in Rieden. (Bild: ejo)

Gutes für die Seele
Schleuniger, die sich Ende 2021 in Rieden selbstständig gemacht hat, hält für ihre Klienten nach dem Motto «Gutes für die Seele» (Sweets for Soul) ein ganzheitliches, seelsorgerisches Angebot bereit. Sie begleitet Menschen in Krisen, oft nach einem Verlust eines geliebten Menschen, und gestaltet freie, persönliche Bestattungen. Für den Verein Trauernetz leitet sie Trauergruppen für Suizidhinterbliebene.

Aber auch die schönen Seiten des Lebens begleitet sie mit Hochzeits- und Willkommensfeiern. Sie leitet Meditationen und spirituelle Kurse, gibt Klangmassagen und Fussmassagen, weil sie der Seele guttun. Ihre Klienten sind kleine Kinder genauso wie Erwachsene jeden Alters.

«Durch meine persönlichen spirituellen Erfahrungen habe ich eine ausgeprägte Hellfühligkeit», sagt die moderne Mystikerin, die weiss, welche Macht in Wörtern, im Klang, in Berührungen und in der Kraft von Heilpflanzen steckt. «Es gibt viel mehr zwischen Himmel und Erde, als unsere fünf Sinne wahrnehmen.»