«Wir haben keine Wahl»

Matthias Betsche zeichnet für die Aargauer Pro-Kampagne zur Biodiversitätsinitiative, zusammen mit den Umweltverbänden, verantwortlich.
Matthias Betsche, Geschäftsführer Pro Natura Aargau und GLP-Grossrat. (Bild: zVg)

Wie kam es zu dieser Initiative?
Der Natur geht es nicht gut, es besteht Handlungsbedarf. Mit der Initiative wollen wir den Anstoss geben, damit gehandelt wird. Wir brauchen die Biodiversität, um zu überleben. Eine vielfältige Natur ist von unschätzbarem Wert für uns. Ein Beispiel: Ohne Bienen, Schmetterlinge & Co. keine Bestäubung, ohne Bestäubung keine Nahrungsmittel wie Beeren, Früchte und Gemüse. Gleich­zeitig sind aber 45 Prozent der Wildbienen­arten in der Schweiz bereits aus­gestorben oder gefährdet. Als Vater frage ich mich: welches Erbe hinterlassen wir hier unseren Kindern und Enkelkindern? Verschiedene wissenschaftliche Studien über den Zustand der Artenvielfalt zeigen, dass wir handeln müssen. Es gibt Berichte des Bundesrates oder im Aargau auch vom Regierungsrat, alle mit derselben Aussage: Der Zustand der Natur ist besorgniserregend, die Artenvielfalt ist stark unter Druck. Es gibt viele Tier- und Pflanzenarten, die gefährdet sind, einige sind bereits verschwunden.

Was will die Initiative?
Die Initiative ist ein Auftrag ans Parlament und an den Bundesrat, dafür zu sorgen, dass der Handlungsbedarf erkannt und unsere Lebensgrundlage gesichert wird. Das heisst, man muss in der Landschaft, im Wald oder in den Siedlungen die Biodiversität erhalten. Mögliche Massnahmen sind zum Beispiel, dass in Siedlungen mehr Grünfläche angelegt wird, dass die Waldränder aufgewertet werden oder dass neue Biotope errichtet werden. Dazu braucht es auch Geld. Wir sind auf allen Ebenen gefordert. Es geht nicht einfach nur darum, zusätzliche Ausgleichsflächen zu schaffen.

Sondern?
Es geht auch um die Erhaltung und Steigerung der Qualität von bestehenden Lebensräumen. Und wir müssen die bestehenden Naturflächen untereinander besser vernetzen. Wir sehen im Aargau zum Beispiel, dass es dem Igel in den letzten Jahrzehnten zunehmend schlechter geht und die Bestände abnehmen. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Qualität des Lebensraums im Siedlungsraum für den Igel nicht mehr stimmt und dass der Aargau sehr zerschnitten und zersiedelt ist. Die einzelnen Lebensräume für die Tiere und Pflanzen liegen oft isoliert wie kleine einzelne Inseln im Siedlungsmeer. Wir müssen diese Inseln wieder miteinander verbinden. Die Vernetzung der erforderlichen Lebensräume funktioniert gerade im Siedlungsraum nicht mehr so, wie sie sollte.

Wieso ist die Initiative so allgemein und wenig konkret formuliert?
Es ist nicht die Idee einer Initiative, dass sie alle Details regeln soll. In meinen Augen ist die Biodiversitätsinitiative ein Auftrag zum Handeln. Mit diesem Auftrag sollen Bundesrat und Parlament aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen die Massnahmen und Mittel festlegen, die es zur Erhaltung unserer Lebensgrundlagen braucht. Im Moment gibt es einen Trend, dass man viel zu wenig gegen das Artensterben macht. Deshalb braucht es hier eine Trendwende, denn die Biodiversität ist unsere Lebensgrundlage.

Die Gegner sprechen vor allem über landwirtschaftliche Nutzflächen.
Landwirtschaft ist nur ein Aspekt des ganzen Themas. Generell muss man lobend erwähnen, dass gerade im Aargau mit dem Biodiversitäts-Förderprogramm Labiola viel zur Erhaltung der Biodiversität gemacht wird. Diese gesellschaftlichen Leistungen der Landwirte und Landwirtinnen können nicht genug wertgeschätzt werden; und nicht nur in der Landwirtschaft, auch in Gemeinden, Kantonen, Firmen oder Vereinen setzen sich viele für die Artenvielfalt ein. Es ist nicht so, dass gar nichts unternommen würde oder dass es keine positiven Resultate gäbe. Diese Leistungen muss man anerkennen. Ohne diesen Einsatz wäre die Situation noch viel schlimmer.

Aber?
Gleichzeitig stellt die Wissenschaft fest, dass die bisherigen Bemühungen nicht ausreichen. Der Bundesrat hat in seiner Botschaft zur Biodiversitätsinitiative Stellung genommen. Darin hat er festgehalten, dass es zusätzliche Massnahmen in Wald, Landwirtschaft und Siedlung braucht, um den besorgniserregenden Zustand der Biodiversität zu verbessern.

Das heisst, es geht gar nicht in erster Linie um landwirtschaftliche Flächen?
Die Biodiversität müssen wir in allen Bereichen fördern, sei es bei Waldrändern, im Ackerbaugebiet oder Siedlung. Der Handlungsbedarf im Kanton Aargau ist im Siedlungsraum sehr gross. Gemäss der Fachgrundlage Ökologische Infrastruktur des Kantons wurde für den Aargau ein Handlungsbedarf für eine ausreichende Biodiversität im Siedlungsgebiet von rund 3690 Hektaren festgestellt. Ich nenne ein Beispiel: Der Bruggerberg ist nicht nur eine wunderbare Wohnlage für Menschen, sondern auch ein wertvoller Lebensraum für viele seltene Tier- und Pflanzenarten. Auch die einen Meter hohe Orchideenart Bocks-Riemenzunge findet sich in diesem Gebiet. Die Lebensräume am Bruggerberg müssten mit Trockensteinmauern, Magerwiesen, Ast- und Steinhaufen und offenen Waldrand- und Heckenstrukturen weiter gestärkt und untereinander vernetzt werden.

Wo liegt der Handlungsbedarf im Siedlungsraum Aargau?
Es braucht einen Anteil für Biodiversität im Siedlungsraum, wie das auch in der Landwirtschaft oder im Wald erforderlich ist. Das muss man mitdenken und mitplanen. Da gibt es ein grosses Potenzial, aber eben auch grossen Handlungsbedarf. Entsiegelte und begrünte Bereiche bieten wichtige Lebensräume für Tiere und Pflanzen und tragen so zur Förderung der Biodiversität bei. Tiere müssen sich zudem in und zwischen den Lebensräumen bewegen können. Der Igel oder eine Zauneidechse beispielsweise müssen sich in einem Gebiet fortbewegen können und dabei immer wieder «Trittsteine» wie Hecken, Asthaufen, Wiesen usw. vorfinden.

Wenn man sich nun eine Karte der Region Brugg anschaut und sich in die Lage der Tiere versetzt, wird klar, dass die Landschaft durch viel menschliche Infrastruktur zerschnitten wird: Verkehr, Gebäude, Nutzungen aller Art zerschneiden die Lebensräume der Tiere. Das macht es schwierig, dass diese Lebensräume weiter funktionieren können. Da braucht es Massnahmen, um dieses Wegnetz für Tiere zu verbessern. Das ist wie ein Infrastrukturvorhaben für die Natur. Wir brauchen verschiedene Biotope und müssen ein Strassennetz und Aufenthaltsräume für die Tiere erstellen.

Was machen Sie bei Pro Natura in diesem Bereich?
Pro Natura Aargau schafft und pflegt im Aargau viele Naturschutzgebiete und engagiert sich zusammen mit Gemeinden, Landwirten und Privatpersonen für mehr Natur in allen Lebensräumen. Wir errichten Biotope, Ruderalflächen, Trockensteinmauern, Hochstammobstgärten, Blumenwiesen und vieles mehr – es gäbe so viel Potenzial überall. Schauen Sie sich nur um in ihrer Gemeinde: Ich bin sicher, alle kennen einen Platz, wo etwas für die Natur gemacht werden könnte. Auch bei Bauprojekten bringen wir uns ein. So sehen wir im Alltag auch, wie gross das Potenzial zur Steigerung der Artenvielfalt ist.

Wie schätzen Sie persönlich unsere Chancen ein, die Artenvielfalt zu erhalten?
Wir haben keine Wahl, es ist unsere Lebensgrundlage und vor allem jene unserer Kinder und Enkelkinder. Wir brauchen zwingend eine hohe Biodiversität für gesunde Böden, sauberes Trinkwasser oder auch für unsere Medikamente in der Gesundheitsversorgung. Ich bin aber überzeugt, dass wir die Trendwende schaffen und die Vielfalt der Natur erhalten können.

Wir sind bereits zu spät in Bezug auf gewisse Tier- und Pflanzenarten, die im Aargau oder in der Schweiz ausgestorben sind. Im Aargau sind beispielsweise viele Vögel verschwunden. Arten wie Purpurreiher, Rohrweihe oder Wachtelkönig brüten bei uns nur noch sporadisch. Der Bestand des Baumpiepers ist seit den 1990er-Jahren von über 500 bis auf wenige Brutpaare zusammengebrochen. Beim Gartenrotschwanz liegt der aktuelle Bestand im Aargau bei noch etwa zehn Brutpaaren, verglichen mit gut 700 Brutpaaren vor rund 35 Jahren. Da müssen wir jetzt alles daran setzen, um diesen Trend umzukehren. Ich bin überzeugt, das ist machbar.

Ist das Bewusstsein für den Artenrückgang in der Bevölkerung noch nicht angekommen?
Das ist wohl so, denn viele Tiere verschwinden im Stillen. Es sind häufig auch schleichende Prozesse. Nehmen wir die Feldlerche: Man liest aktuell gerade darüber, dass die Bestände zusammengebrochen sind und dass es der Art gar nicht gut geht. Kinder, die heute aufwachsen, können sich aber gar nicht an die Feldlerche erinnern.

Wir gehen Tag für Tag an Orten vorbei, die im Laufe der Zeit immer weniger Tiere beherbergen – das macht mich betroffen. Das ist eine gefährliche Entwicklung für uns Menschen. Wir sind ja Teil des Öko­systems. Wir brauchen die Natur. Eine intakte Natur hilft gegen den Klimawandel: Moore und Wälder binden CO2, Bäume und Gewässer sorgen für Abkühlung, natürliche Flussläufe retten uns vor Hochwasser.

Wie steht es um die aktuellen rechtlichen Bestimmungen in Bezug auf den Naturschutz?
Es gibt verschiedene gesetzliche Grundlagen für den Naturschutz, aber die reichen offensichtlich nicht. So sind beispielsweise die Moore in der Schweiz geschützt. Wenn man die aber austrocknen lässt, weil es zu wenig finanzielle Mittel für den Moorschutz gibt, funktioniert es nicht. Und wenn die finanziellen Mittel im Naturschutz, so wie gegenwärtig, massiv gekürzt, statt ausgebaut werden, dann sieht man, wie der Trend in die falsche Richtung geht und wie wichtig diese Initiative ist. Es braucht jetzt diesen Auftrag zum Handeln in der Verfassung.

Es geht also nicht nur um Flächen, sondern auch um Geld.
Genau. Man darf vor allem nicht vergessen: Nichtstun kostet uns viel mehr. Der Verlust der Biodiversität in der Schweiz kostet ab 2050 jährlich 14 bis 16 Milliarden Franken – sagt der Bundesrat! Der Wert der Bienenbestäubung in der Schweiz beläuft sich pro Jahr auf über 340 Millionen Franken. Wenn wir den Lebensraum der Bienen nicht schützen, bezahlen wir alle einen hohen Preis. Der Erhalt unserer Lebensgrundlagen muss uns etwas wert sein, und dann müssen wir auch entsprechend investieren.

Das ist auch der Auftrag der Biodiversitätsinitiative, dass man die Gelder spricht, die es braucht. Wir können noch so viele Gesetze haben, wenn das Geld für die Umsetzung nicht vorhanden ist, funktioniert es nicht.