Spiritual Care in der Palliativversorgung

Palliative Care ist mittlerweile etabliert. Dass Spiritual Care dazugehört, wissen die wenigsten. Im Gespräch mit Martina Holder-Franz.
Pfarrerin Martina Holder-Franz, Bildungsverantwortliche Palliative Care. (Bild: isp)

In der Begleitung von Schwerkranken und Sterbenden werden Massnahmen getroffen, die das Leiden lindern sollen. Oberstes Ziel ist es, der betroffenen Person die bestmögliche und eine würdige Lebensqualität bis zum Ende zu verschaffen. Den Ansatz nennt man Palliative Care – ein englischer Begriff, der sich in unseren Breitengraden gut etabliert hat.

Die Gruppe Palliative Care und Begleitung Fislisbach ist seit über zehn Jahren im Dorf aktiv unterwegs; zwölf Mitarbeitende unterstützen ehrenamtlich und freiwillig diese Untergruppe der Frauen- und Müttervereinigung. Alle Begleitpersonen haben die Ausbildung «Begleitung schwerkranker Menschen und Unterstützung der Angehörigen» absolviert. Hinter dem Angebot stehen die christkatholische, die katholische und die reformierte Landeskirche. Der Aargau ist schweizweit praktisch der erste Kanton, der solche Dienstleistungen anbietet. «Palliative Care einzufordern, ist unentgeltlich. Jede Person kann darauf zurückgreifen. Die meisten Menschen wünschen sich in der letzten Lebensphase eine bestmögliche Lebensqualität», sagt Monika Koch, Palliative Care und Begleitung Fislisbach.

An der Grenze von Medizin, Theologie und Seelsorge
Integrierender Bestandteil von Palliative Care ist Spiritual Care. Dieser Begriff ist aber den wenigsten geläufig. Über die Formen und Zielsetzungen von Spiritual Care wird seit geraumer Zeit intensiv diskutiert. Hier gibt es unterdessen ebenfalls einen entsprechenden Lehrgang. Spiritual Care ist eine wissenschaftliche Disziplin an der Grenze zwischen Medizin, Theologie sowie Krankenhausseelsorge. Als Hintergrundtheorie dient die philosophische Anthropologie. Spiritual Care bemüht sich also über den traditionell christlichen Kontext der Krankenhausseelsorge hinaus, Spiritualität und Religiosität auch als Bedürfnis kirchenferner oder nicht christlicher Patientinnen und Patienten wahrzunehmen und zu erforschen.

Pfarrerin Martina Holder-Franz von der reformierten Landeskirche Aarau ist Bildungsverantwortliche Palliative Care und Begleitung. Die «Rundschau» hat sich mit der versierten Fachfrau unterhalten.

Martina Holder-Franz, können Sie Spiritual Care etwas präziser ­erklären?
Im Wort Spiritual Care sind zwei Wörter zu finden: Spiritual lehnt an das lateinische Wort Geist an. Aber auch die Alltagssprache hat das Wort Spirit aufgenommen, beispielsweise wenn wir fragen, was für ein Spirit liegt einem Projekt, einer Organisation oder einer Institution zugrunde. Das englische Wort Care ist schwer zu übersetzen, weil Care mehr meint als sich zu kümmern, sich zu sorgen oder zu begleiten. Care steht ausserdem für Zeit haben, Zuwendung und Zuhören oder einfach für da zu sein.

Sie haben einige Jahre zu Cicely Saunders geforscht, die als «Mutter der modernen Hospiz- und Palliative-Bewegung» zu Spiritual Care gilt …
Cicely Saunders war erst Pflegefachfrau, dann Sozialarbeiterin und später über 40 Jahre Ärztin und Schmerzforscherin in Grossbritannien. Sie sprach viel mit ihren Patientinnen und Patienten und konnte aufzeigen, dass das Menschsein weitaus mehr ist als physisches Wohlergehen oder physischer Schmerz. Was trägt, was hält, was wichtig ist, das ist bei jedem Menschen anders und soll in der Begleitung und der Behandlung Beachtung finden. Das hat sie nicht nur gelehrt, sondern im Hospiz St. Christopher’s bis zu ihrem Tod 2005 gelebt. Heute ist Spiritual Care eine wissenschaftliche Disziplin, die an der Schnittstelle zwischen Medizin, Theologie, Philosophie und Anthro­pologie forscht und arbeitet.

Weshalb ist Spiritual Care Bestandteil der Seel- und Spitalseelsorge?
Weil die Bedürfnisse und die Lebensqualität des Einzelnen im Zen­trum stehen. Aber auch psychiatrische Kliniken oder Langzeitpflegeeinrichtungen erkennen den Mehrwert von Spiritual Care. Zudem zeigen die Forschungen im Gesundheitswesen, dass sich die ganzheitliche Wahrnehmung, die Glaubens- und Sinnfragen berücksichtigt, positiv auf den Begleitprozess auswirkt. Spiritual Care, so Cicely Saunders, ist Aufgabe verschiedener professioneller Akteure im Gesundheitswesen, aber ebenso Thema bei pflegenden Angehörigen, Freiwilligen und Besuchsdiensten. Diese sind erfahrungsgemäss sehr wichtig. Sie bringen Zeit mit und hören zu. Den Betroffenen geht es nach dieser Begegnung besser, sie haben mehr Lebensfreude.

Welche Haltung nimmt jemand ein, der Spiritual Care anbietet?
Unsere Haltung zu Dingen, die wir tun oder planen, spielt in verschiedenen Lebensbereichen eine grosse Rolle. Es macht einen grossen Unterschied, ob der Besuch meiner kranken Nachbarin Pflicht ist oder ob ich freiwillig hingehe. Bei Spiritual Care geht es nicht nur um die Verbesserung der Lebensqualität bei schwerer Krankheit oder beim Sterben. Einem leidenden Menschen hilft es enorm, wenn ich als Seelsorgerin nicht nur die Krise oder die Krankheit sehe, sondern davon ausgehe, dass wir alle in erster Linie Personen sind und nicht eine Krankheit oder Diagnose.

Diese Haltung spüren Betroffene und können sich dann wohl leichter öffnen und eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen.
Ja. Am Ende des Lebens ist die Haltung von Respekt vor der einzelnen Lebensgeschichte und von dem Anrecht auf Selbstbestimmung geprägt. Es geht nicht ums Werten, sondern darum, Sterbenden stützende und hilfreiche Prozesse zu ermöglichen. Es ist oft nicht messbar, was alles passiert, wenn Menschen merken, ich werde hier nicht bewertet oder verurteilt, aber gestützt. Das macht für mich beispielsweise gute Seelsorge aus.

Können Sie ein praktisches Beispiel geben, wie Spiritual Care gelebt wird und in welcher Form es zum Einsatz kommt?
Vor einiger Zeit begleitete ich in meiner Funktion als Seelsorgerin einen älteren Herrn zu Hause und in den letzten Tagen im Spital. Dort war er nur noch vier Tage. Er verstarb auf einer Akutstation. In den letzten Tagen war er kaum ansprechbar, reagierte jedoch auf Besuch. Eine seiner Töchter hatte ein gutes, die andere ein eher schwieriges Verhältnis zu ihm. Letztere bat mich in diesem Prozess um Unterstützung. Sie war nervös und setzte sich unruhig ans Bett ihres sterbenden Vaters. Ich nahm neben ihr auf einem Stuhl Platz. Ganz ruhig erzählte ich dem Herrn, weshalb ich mitgekommen sei, und sprach an, dass das Verhältnis zwischen ihm und seiner Tochter R. nicht immer einfach gewesen sei. Die Tochter blieb zunächst stumm, ergriff dann die Hand des Vaters und begann zu weinen. Ich sagte nichts, denn diese Stille zwischen Vater und Tochter war ganz erfüllt von der Sehnsucht nach Frieden. Nach einer Weile sprach ich aus, was der Tochter so zu schaffen gemacht habe und was sie jetzt auch ablegen wolle. Der sterbende Mann wurde unruhiger und versuchte, die Hand der Tochter stärker zu fassen. Dann sagte die Tochter: «Papi, du wirst mir fehlen, und ich danke dir, dass wir jetzt Frieden machen konnten.» Er schaute sie längere Zeit an – ein Ausdruck ihres Vaters, der ihr bis heute guttut, mit dem sie getröstet weitergehen kann, selbst wenn sie über einige Jahre so schwierige Aus­einandersetzungen hatten.

Sie konnten beim Friedenschliessen also helfen …
Spiritual Care meint die geistige, seelische Verfasstheit von uns Menschen. Das kann man nicht erzwingen oder einfach herstellen. In diesem Beispiel war die Sehnsucht von Vater und Tochter nach Frieden ein grosser Wunsch, der Unterstützung brauchte. Viel habe ich in dieser Begegnung weder gemacht noch gesagt, ich bin mitgegangen und habe unterstützt. Das Eigentliche aber, das haben Vater und Tochter erfahren.

Es gibt zwischenzeitlich sogar einen Lehrgang. Wie lang dauert dieser, und können Sie darüber Näheres berichten?
Inzwischen gibt es an verschiedenen Universitäten Lehrgänge zu Spiritual Care. An der Universität Zürich beispielsweise gibt es sogar einen Lehrstuhl für diese Wissenschaftsdisziplin. Ich unterrichte alle Module, A2 und B, im Aargau unter Einbezug von Spiritual Care, die laut den internationalen und nationalen Leitlinien stets wesentlicher Bestandteil ist. Wir bieten im Aargau ab August einen Basiskurs zu Spiritual Care an, der von Interessierten fachbezogen, aber auch von Laien und freiwillig Tätigen besucht werden kann.

Was ist Ihre ganz persönliche Motivation, sich für Spiritual Care zu engagieren?
Mich motiviert, dass die geistliche Dimension des Menschen immer Teil unseres Erlebens ist: wenn ich mich über den Sternenhimmel freue, über ein Gänseblümchen staune oder wenn mich jemand in den Arm nimmt. Es wird mir unzählige Male bewusst, dass das Leben ein Geheimnis ist und das Leben mehr bedeutet als Zellen, Gewebe oder messbare Daten. Spiritual Care und ihre Anwendungsgebiete kann man trainieren, es ist nicht alles Intuition. Es braucht Wissen über Pflege, Medizin, Kommunikation, über unsere Kultur und Religionen. Gerade weil ich hier mit existenziellen Themen unterwegs bin, fördert das meine eigene Persönlichkeit, und ich lerne nach wie vor dazu.