«Ich rümpfe nur selten die Nase»

Sofia Hess hat nach ihrer Ausbildung zur Pferdefachfrau umgesattelt und sorgt nun als Beladerin dafür, dass der Müll wegkommt.
Die Wettingerin Sofia Hess auf Müllsammeltour. (Bild: rhö)

Sie ist wahrlich kein Riese, nicht viel mehr als einen Kopf grösser als die Container, die sie bei der Abfallentsorgung herumschiebt. Neben Boris Bojovic, ihrem heutigen Partner auf der Tour durch Ehrendingen, Siglistorf, Fisibach und Mellikon, wirkt ihre Postur zierlich. Nein, Sofia Hess erfüllt sich nicht ihren Kindheitstraum, wenn sie auf dem Trittbrett eines Kehrichtfahrzeugs mitfährt und Müllsäcke im hohen Bogen in dessen Schlund befördert, obwohl sie sogar von der Obrist Transport & Recycling AG bezahlt wird. Bei geschenkidee.ch kostet ein «Erlebnistag als Müllmann auf dem Kehrichtfahrzeug» bei der Neuenhofer Firma nämlich 350 Franken.

Wie die Formulierung des Angebots zeigt, ist es trotz der fortgeschrittenen Emanzipation immer noch ungewöhnlich, dass eine Frau diese schwere körperliche Arbeit verrichtet. Die Wettingerin Sofia Hess ist eine von nur zwei Beladerinnen im 120-köpfigen Team, das für Obrist im Ostaargau und im Kanton Zürich unterwegs ist. «Ursprünglich hat mich Geschäftsführer Thomas Benz nur gefragt, ob ich einige Tage aushelfen könne, da sie knapp an Personal seien. Er wusste, dass ich zupacken kann. Dann hat es mich aber gepackt, und nun mache ich diesen Job schon anderthalb Jahre», erzählt die bald 23-Jährige, die 2022 ihre Ausbildung zur Pferdefachfrau abschloss. Das war ihr Wunschberuf, doch musste sie feststellen, dass er einem mehr abverlangt, als er bietet: «Man arbeitet oft über 50 Stunden in der Woche, hat kaum Freitage und verdient trotzdem wenig.»

Was die körperliche Belastung betrifft, ist das Einsammeln des Abfalls ähnlich anstrengend wie der Pflegeberuf. «Nach dem ersten Tag als Beladerin fühlte ich mich, als ob mich ein Lastwagen überfahren hätte», erinnert sie sich schmunzelnd. «Ich wusste gar nicht, dass ich so viele Muskeln habe.» Inzwischen ist sich Sofia Hess die Belastung gewohnt und so trainiert, dass sie keinen Muskelkater mehr bekommt. Geblieben ist der hohe Kalorienverbrauch. Sie ist immer hungrig. Morgens esse sie meistens ein grosses Birchermüesli, sonst überlebe sie den Tag nicht. «Manchmal bringen uns unterwegs aufmerksame Dorfbewohner einen Kaffee oder im Sommer ein Eis. Diese Wertschätzung freut uns sehr.»

Bei der Arbeit sind leuchtendes Orange, Stahlkappenschuhe und Handschuhe pflicht – und speziell wichtig, wenn man wie Sofia Hess auf Wespenstiche allergisch ist. «Manche Nester befinden sich in den Containern. Vor zwei Wochen hat mich wieder eine in den Arm gestochen», erklärt die Beladerin. «Ich bekam Herzrasen, aber als ich etwas Süsses gegessen habe, konnte ich weiterarbeiten.»

Ihr Arbeitstag beginnt in Neuenhof, wo sie sich mit dem Fahrer und dem zweiten Belader trifft und so abfährt, dass das Trio um 7 Uhr am Einsatzort ist. «Man fährt fünf Touren, aber jeden Wochentag in einem anderen Trio», erzählt Sofia Hess. «Das bringt Abwechslung, da man sich ­immer etwas zu erzählen hat, und ausserdem ist es so leichter, sollte man mit jemandem nicht so gut auskommen.» Sie habe aber nur ganz selten Probleme, was angesichts ihrer positiven Ausstrahlung wenig verwundert. Ihr verzeihen die Kollegen wohl auch, dass sie ein Morgenmuffel ist, wie sie freimütig einräumt. Das Schönste an ihrer Arbeit sei, wenn sie wisse, dass sie in einem harmonischen und motivierten Team unterwegs sei. «Dann ist die Tour am schnellsten vorbei. Sonst kann sie auch mal eine halbe oder eine ganze Stunde länger dauern.»

Bei Chauffeur Haris Reshiti ist Beladerin Sofia Hess gern Trittbrettfahrerin, und bei Kollege Boris Bojovic kann sie sich auch mal anlehnen. (Bild: rhö)

Alte Liebe und neues Ziel
Andere Faktoren, die zu Verzögerungen führen können, sind viel Müll, falsche Säcke oder fehlende Gebührenmarken. Für Sofia Hess sind (zu) schwere Müllsäcke oder Grünabfälle sowie Sperrgut, das sich nicht hydraulisch in die Mulde befördern lässt, die grösste Herausforderung. Mit dem, was der Mehrheit der Bevölkerung am Müll am meisten stinken dürfte, kommt sie gut klar. «Ich habe mich mittlerweile so an den Gestank gewöhnt, dass ich ihn kaum wahrnehme. Nur noch selten, wenn es besonders stinkt oder Maden im Spiel sind, rümpfe ich die Nase.»

Vielleicht hängt das damit zusammen, dass sie schon lang Pferdeställe ausmistet. Die Vierbeiner sind nach wie vor ihre grosse Liebe. «Ich habe zwei Reitbeteiligungen. Abgesehen davon, dass ich mir kein eigenes Pferd leisten könnte, hat es den Vorteil, dass ich so weniger angebunden bin.» Ihre restliche Freizeit nutzt sie, um mit ihrer Clique an eine Party oder ins Kino zu gehen.

Wie es für sie bei der Firma Obrist weitergeht, steht für sie ebenfalls bereits fest: «Ich will nun den Lkw-Führerausweis machen», sagt Sofia Hess bestimmt. «Ich bin ja noch jung. Ich will nicht stehen bleiben.» Auch nicht auf dem Trittbrett.

Verlosung
Die «Rundschau» verlost einen Erlebnistag als Müllfrau oder Müllmann bei der Neuenhofer Firma Obrist Transport & Recycling AG. Schicken Sie uns eine E-Mail mit dem Betreff «Erlebnistag» an wettbewerb@effingermedien.ch. Einsendeschluss ist Freitag, 30. August, 9 Uhr.