Eine komplizierte Abstimmungsvorlage

Was die Revision der beruflichen Vorsorge will, ist klar. Aber was bedeutet die Reform für die Einzelne und den Einzelnen?

Am 22. September kommt eine Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) zur Volksabstimmung. Die Vorlage, gegen die das Referendum ergriffen wurde, ist komplex. Vielen Erwerbstätigen ist nicht klar, ob und wie sie von einem Ja betroffen wären. Um was geht es? Zitat aus der Abstimmungsbroschüre des Bundes: «Die Reform zielt darauf ab, die Finanzierung der zweiten Säule zu stärken, das Leistungsniveau insgesamt zu erhalten und die Absicherung von Personen mit tiefen Einkommen sowie Teilzeitbeschäftigten zu verbessern.» Weil die Lebenserwartung und damit der Anteil der Pensionierten in der Bevölkerung steigt – gleichzeitig aber das von den Pensionskassen angelegte Kapital durch tiefere Zinserträge weniger Rendite erzielt, sind die Renten im sogenannten obligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge nicht mehr ausreichend finanziert. Deshalb will die Reform den Umwandlungssatz von heute 6,8 auf 6 Prozent senken. Das heisst: Wer im Zeitpunkt der Pensionierung 300 000 Franken auf seinem BVG-Konto angespart hat, bekäme neu 18 000 Franken Jahresrente statt einer solchen von 20 400 Franken. Es wird angenommen, dass bis zu 17 Prozent der Versicherten von diesem tieferen Umwandlungssatz betroffen wären. Genaue Zahlen gibt es aber nicht. Das, weil viele Versicherte bei ihrer Pensionierung keine Rente beziehen, sondern sich das Kapital auszahlen lassen und auf eine Pension verzichten. Die Pensionskassenbranche (es gibt rund 1400 verschiedene Kassen) geht im obligatorischen Teil von einem Anteil um die 40 Prozent der Versicherten aus, der Kapital statt Rente bezieht – meist weil die monatliche Zahlung nur sehr klein ausfallen würde.

Was heisst überobligatorisch?
Neben dem obligatorischen Teil gibt es einen überobligatorischen. Das bedeutet: Bis zu einem Jahreslohn von 88 200 Franken gibt es einen garantierten Mindestumwandlungssatz – aktuell 6,8 Prozent. Die grosse Mehrheit ist jedoch im sogenannten Überobligatorium versichert, bei dem die Kassen den Satz individuell festlegen dürfen. Die meisten Versicherer haben ihren Umwandlungssatz bereits so angepasst, dass dieser der höheren Lebenserwartung entspricht – sich also unter 6,8 Prozent bewegt. Wie bereits erwähnt, will die Revision Teilzeiterwerbstätige mit kleinen Pensen und Leute mit tiefen Löhnen besserstellen. Sie und ihre Arbeitgeber müssten allerdings etwas höhere Beiträge in die Pensionskasse einzahlen. Wer weniger als 60 000 Franken pro Jahr verdient, darf erwarten, dass er oder sie eine höhere Rente bekommt. Durch die Reform erhalten insgesamt deutlich mehr Personen eine höhere als eine tiefere Rente, lautet das Hauptargument für ein Ja zur Initiative.

Wie bei der AHV-Abstimmung über ein höheres Rentenalter für Frauen gibt es Übergangsregelungen. Wer älter als 50 ist und weniger als 440 000 Franken Alterskapital in der Pensionskasse angespart hat, darf mit einer Kompensation rechnen. Wie hoch diese ausfällt, hängt vom Lohn und vom konkreten Alter ab. Maximal geht es um 200 Franken Rente pro Monat. Wie erfährt man, welche Auswirkungen die Reform für einen persönlich hat? Auskunft liefert der Pensionskassenausweis. Dort steht, wie viel Geld man fürs Alter angespart hat und welche Rente man pro Jahr voraussichtlich bekommt (bei gleichbleibendem Lohn und einem angenommenen Zinssatz). Wichtig ist der Umwandlungssatz bei Pensionsalter 65: Wenn dort 6,8 Prozent vermerkt sind, ist es wahrscheinlich, dass man von der Senkung des Umwandlungssatzes betroffen ist. Im Internet sind Anleitungen zum Lesen des Pensionskassenausweises und «Rechner» zu den Auswirkungen der Reform zu finden.

Hilfreich sind für die persönliche Meinungsbildung auch Parteien oder Organisationen, denen man vertraut. In diesem Fall wird das schwierig. So steht die SVP beispielsweise national hinter der Vorlage. Die Kantonalsektionen Solothurn und Wallis haben aber Nein-Parolen beschlossen. Und die SVP-Ständerätin Esther Friedli (SG) führt gar das gewerbliche Nein-Komitee an.

Um einmal etwas in die Argumentation beider Seiten einzutauchen, hat der «General-Anzeiger» je eine Stimme aus dem Pro- sowie aus dem Kontralager eingeholt.

pro

Ja zur BVG-Reform, Ja zur arbeitenden Bevölkerung
Die zweite Säule ist jene der arbeitenden Bevölkerung: Man arbeitet, zahlt Beiträge ein und spart fürs Alter. Arbeitet man in einem höheren Pensum und zahlt mehr ein, erhält man eine höhere Rente. Während die AHV als erste Säule den existenziellen Grundbedarf deckt, belohnt die zweite Säule die höhere Erwerbstätigkeit. Möchte jemand zugunsten der Work-Life-Balance lieber 60 oder 80 Prozent arbeiten, lange Reisen machen oder bis Mitte 30 studieren, ist das ihre oder seine Wahl. Aber wenn jemand das ganze Leben voll arbeitet und immer Beiträge in die berufliche Vorsorge eingezahlt hat, soll das auch mit einer höheren Rente belohnt werden. Dass gerade gewerkschaftliche Kreise die BVG-Reform bekämpfen, ist eigentlich absurd, erhalten doch 100 000 arbeitende Menschen endlich eine berufliche Vorsorge. Ein wichtiger und richtiger Schritt.

Mehr Arbeiten soll belohnt werden
Am 22. September stimmen wir über die Reform der beruflichen Vorsorge ab. Seit der letzten Revision vor 20 Jahren hat sich die Gesellschaft in der Schweiz verändert: Wir arbeiten weniger körperlich und werden älter, die meisten Frauen sind berufstätig, viele von ihnen Teilzeit, und immer mehr Menschen haben verschiedene kleine Jobs oder einen Nebenerwerb. Diesen gesellschaftlichen Veränderungen muss sich unser Vorsorgesystem anpassen. Die BVG-Reform tut genau das: Sie passt die berufliche Vorsorge unserem heutigen Alltag an.

100 000 Menschen neu mit beruflicher Vorsorge
Die BVG-Reform bietet Antworten auf dringende Probleme in der zweiten Säule. Menschen, die Teilzeit arbeiten oder mehrere kleinere Jobs haben, sind heute in vielen Fällen von der Pensionskasse ausgeschlossen. Deshalb werden mit der BVG-Reform tiefere Einkommen versichert, Löhne aus mehreren Jobs zusammengezählt und die Summe als Jahreseinkommen versichert. Schliesslich wird der sogenannte Koordinationsabzug – das Einkommen nach diesem Abzug wird in der Pensionskasse versichert – nicht mehr mit einem fixen Betrag, sondern mit 20 Prozent berechnet. Dank diesen Massnahmen sparen auch Menschen mit tieferen Einkommen für eine Rente aus der beruflichen Vorsorge. Etwa 100 000 Menschen erhalten dank der BVG-Reform endlich Zugang zur zweiten Säule.

Chancen für ältere Arbeitnehmende erhöhen
Im heutigen Pensionskassensystem werden die Lohnabzüge mit zunehmendem Alter immer grösser. Das ist problematisch, weil dadurch Arbeitnehmende mit steigendem Alter immer teurer werden. Die BVG-Reform beseitigt diesen Missstand, indem es nur noch zwei Beitragssätze gibt: 9 Prozent für 25- bis 44-Jährige und 14 Prozent für 45- bis 65-Jährige.

Umverteilung bei der Pensionskasse stoppen
Die BVG-Reform schafft ausserdem Gerechtigkeit zwischen den Generationen. So wird der Umwandlungssatz – diesen Anteil vom gesparten Kapital erhält man im Alter jährlich als Rente – an die gestiegene Lebenserwartung angepasst. Das heisst, man erhält nicht weniger, sondern das gesparte Kapital wird über mehr Jahre verteilt, weil wir länger Renten beziehen und das Geld für mehr Jahre reichen muss. Da heute im obligatorischen Teil zu hohe Renten ausbezahlt werden, findet eine Umverteilung von der arbeitenden Bevölkerung zu den Rentnerinnen und Rentnern statt. Die BVG-Reform stoppt diese Umverteilung, die in der zweiten Säule, der Pensionskasse, überhaupt nichts zu suchen hat.

Mit einem Ja zur BVG-Reform tragen wir nicht nur den Veränderungen in der Gesellschaft Rechnung, wir stärken damit auch jene Personen, die zwar arbeiten, aber trotzdem keinen Zugang zur Pensionskasse haben.

Beat Bechtold, Direktor AIHK. (Bild: zVg)

kontra

Es gibt einige gute Gründe, die vorliegende Reform abzulehnen. Die ­Pensionskassenvorlage sollte eigentlich die Finanzierung der zweiten Säule stärken, das Leistungsniveau erhalten und die Absicherung von Teilzeitbeschäftigten und Personen mit tiefen Löhnen verbessern.

Leider verfehlt die vorliegende Reform die Ziele und muss aus folgenden Gründen abgelehnt werden:

Mit der neuen BVG-Vorlage soll der Umwandlungssatz für den obligatorischen Teil – das sind alle mit Jahreslöhnen von rund 20 000 Franken bis 90 000 Franken – von 6,8 Prozent auf 6,0 Prozent gesenkt werden. Damit sinken die jährlichen Renten für diese Einkommensgruppe um 12 Prozent. Da die Rentenausfälle sehr substanziell sind, sollen 15 Jahrgänge Rentenzuschläge erhalten. Doch die Rente der Übergangsgeneration wird mit dieser Lösung nur teilweise kompensiert. Auch sie würde tiefere Renten als heute erhalten. Die vorliegende Rentenreform trifft damit alle und insbesondere jene mit tieferen Einkommen stark.

Ergänzend würden mit der Vorlage die obligatorischen Lohnabzüge steigen, da die Beschäftigten und die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber jährlich mehr in die Pensionskassen einzahlen müssten. Wer wenig verdient, ist hier besonders betroffen. Der verfügbare Lohnanteil wird noch kleiner, und im Alter wird die jährliche Rente dann trotzdem nicht grösser. Damit steht mit der Reform für alle mit Einkommen im obligatorischen Teil sowohl während ihres Erwerbslebens als auch nach der Pensionierung weniger Geld zur Verfügung.

Von der Reform profitieren werden hingegen die Pensionskassen. Fast allen Pensionskassen geht es gut bis sehr gut. Zudem ist die viel kritisierte Umverteilung von Jung zu Alt bereits das zweite Jahr in Folge ausgeblieben, wie der Bericht der BVG-Oberaufsichtskommission zeigt. Die Pensionskassenreform ist in der vorliegenden Form nicht nötig und bestraft die Menschen mit Einkommen unter 90 000 Franken im Jahr besonders stark.

Im Jahr 2022 sagte die Bevölkerung Ja zur Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre. Im Abstimmungskampf zur Erhöhung des Frauenrentenalters wurde versprochen, dass die Nachteile der Frauen aus der Verschiebung des Rentenalters mit der Pensionskassenvorlage angepackt werden sollen. Nun ist die vorliegende Reform gerade für die Frauen über weite Teile keine gute und zufriedenstellende Lösung. Zwar wären Verbesserungen bei der Rentenbildung für Tiefsteinkommen und den Teilzeitarbeitenden aufgrund der tieferen Eintrittsschwelle möglich. Die Versprechen an die Frauen werden jedoch mit dieser Reform nicht eingelöst.

Die Ziele, die Finanzierung der zweiten Säule zu stärken, das Leistungsniveau zu erhalten und die Absicherung von Teilzeitbeschäftigten und Personen mit tiefen Löhnen zu verbessern, sind nach wie vor richtig. Es brauchte aber eine andere Vorlage, die den Umwandlungssatz nicht anrührt und die Senkung der Einkommensschwelle zur Rentenbildung wieder aufnimmt. Deshalb muss die vorliegende Reform aus meiner Sicht abgelehnt werden. Die Altersvorsorge mit AHV und Pensionskasse funktioniert besser als in der Vergangenheit dargestellt. Nicht nur den Pensionskassen geht es grundsätzlich gut, sondern auch die AHV steht finanziell deutlich besser da als erwartet.

Wir müssen die anstehenden Probleme lösen. Dafür benötigen wir eine Reform, welche die Renten und die Finanzierung für alle sichert und zu besseren Renten für Frauen und Menschen mit tiefen Einkommen führt.

Simona Brizzi, Nationalrätin, Ennetbaden. (Bild: zVg)