Welche Nährstoffe braucht unser ­Körper wirklich?

Die Ernährungstherapeutin Luisa Wieser klärt auf, warum die tägliche Nahrungsaufnahme wichtiger für die körperliche und seelische Gesundheit ist, als viele denken.
Ernährungstherapeutin Luisa Wieser hilft Menschen zu einem gesunden Essverhalten, bei dem der Genuss nicht fehlen darf. (Bilder: zVg)

Eines nimmt die diplomierte Ernährungstherapeutin Luisa Wieser gleich vorweg: «Auf die klassische Ernährungspyramide gebe ich wenig. Wir sind alle individuell und können nicht über einen Kamm geschert werden», meint sie. In ihren Beratungen, die sie in der Praxis am Löwenbrunnen in Baden anbietet, zielt sie vor allem darauf ab, dass Klientinnen und Klienten lernen, selbst das Gefühl zu bekommen, was für ihren Körper und die jeweiligen Lebensumstände notwendig ist. Sie arbeitet eng mit vier anthroposophischen Ärzten zusammen, für die die Nahrungsaufnahme ein wichtiger Bestandteil zur Ausheilung von Krankheiten ist. Die 49-Jährige wurde in Kasachstan geboren, wuchs später in der Ukraine und der ehemaligen DDR auf. Seit 2005 lebt sie in der Schweiz. Als sie ihre zwei Kinder bekam, begann sie, sich eingehend mit dem Thema Er­nährung auseinanderzusetzen, und absolvierte schliesslich ihr dreijähriges Studium zur diplomierten Ernährungstherapeutin. Sie greift bei ihren Expertisen aber auch auf uraltes Ahnenwissen zurück. Ihre Urgrossmutter lebte in Sibirien und sammelte Pflanzen, Beeren und Pilze. «Sie hatte ein riesiges Wissen über gesunde Ernährung. Obwohl sie nicht einen einzigen Tag in der Schule war», bekundet Wieser. 

Kohlenhydrate und Proteine
«Du bist, was du isst», heisst es im Volksmund. Wieser geht noch einen Schritt weiter. «Du bist, was du verdauen kannst», sagt sie. Nur wenn die Nährstoffe in der richtigen Form im Darm ankommen, kann der Körper sie für die lebenswichtigen Stoffwechselprozesse verwerten. Bei Kohlenhydraten beginnt die Verdauung bereits im Mund. Durch das Kauen wird in den Speicheldrüsen und der Bauchspeicheldrüse natürliche Amylase gebildet, ein Verdauungsenzym, das die Stärke in kohlenhydratreichen Lebensmitteln abbaut. «Es ist deshalb ganz wichtig, beim Essen gut zu kauen. Das wird in unserer Stressgesellschaft leider oft verlernt. Viele schlingen ihr Essen in einer kleinen Pause eilig herunter», weiss Wieser aus der Praxis. Wenn Kohlenhydrate deswegen schlecht verdaut werden, können Blähungen und andere Verdauungsstörungen entstehen. Die Proteine werden im Magen verwertet. Es braucht eine bestimmte Konzentration von Magensäure, damit sie sich in Aminosäuren aufspalten können, mit denen der Körper arbeiten und wichtige Aufbauprozesse leisten kann. Gerät die Magensäure aus der Balance, ist es sinnvoll, vor dem Essen etwas Saures wie eine Gurke, etwas rohes Sauerkraut oder ein Teelöffel Apfelessig (nicht pasteurisiert) zu sich zu nehmen. Diese Lebensmittel schmecken zwar sauer, wirken im Körper aber basisch. 

Gesunde Fette sind lebenswichtig
Die Leber ist die Hardworkerin in unserem Körper. Sie filtert pro Tag mehr als 2000 Liter Blut, ist unser Entgiftungsorgan und regeneriert sich relativ schnell. Sie baut Gifte, Medikamentenbestandteile und Alkohol ab und produziert Galle zur Fettverdauung im Darm. Fette wurden in den 1980er-Jahren schlechtgeredet. Heute weiss man aber, dass vor allem eine Überbelastung von falschen Kohlenhydraten in Verbindung mit Omega-6-Fetten der Grund für Gewichtszunahme ist. Beides ist insbesondere in Fast und Convenience-Food sowie weissem und künstlichem Zucker reichlich enthalten. Der Mensch in der westlichen Zivilisation leidet gemäss Wieser im Allgemeinen an einer Überdosierung an Omega 6, das in vielen Fertigprodukten enthalten ist. Mit der Zeit kann das zu Entzündungen im Darm und in den Organen führen, und daraus können langfristig Krankheiten wie Arthrose, Depressionen oder ein Reizdarm entstehen. Omega-3-Fettsäuren sind für den Körper hingegen essenziell, denn sie wirken entzündungshemmend. Besonders reichlich enthalten sind sie vor allem in Meeresfischen und Algen sowie Nüssen, Nuss- und Hanfölen, Leinsamen und Avocados. Empfohlen sind rund 2 Gramm Omega 3 pro Tag. Weil das relativ viel ist und es keinen Sinn ergibt, täglich Fisch zu konsumieren, empfiehlt Wieser, ein hochwertiges Algen- oder Fischöl zu sich zu nehmen. «Mikronährstoffe wie Omega 3 und das Vitamin D3, das durch die UV-B-Strahlung des Sonnenlichts gebildet wird, kann der Körper selbst bei einer perfekten Ernährung nicht genügend produzieren. Ich empfehle hier generell, täglich zu supplementieren», sagt Wieser. Alle Patienten, die sie bisher gemessen hat, litten an einem Mangel von Vitamin D3, durch den das Immunsystem geschwächt wird, aber ebenso Antriebslosigkeit und Gewichtszunahme entstehen können. Ob die Einnahme von anderen Mikronährstoffprodukten wie Vitaminpillen notwendig ist, muss hingegen individuell abgeklärt werden. «Man könnte ja unzählige Supplemente zu sich nehmen. Hier steckt aber auch viel Geschäftemacherei dahinter», gibt Wieser zu bedenken.

Verzicht bringt nichts
«Wenn jemand etwas an sich verändern will, muss er Körper, Geist und Seele einbeziehen», ist Wieser überzeugt. Wenn jemand Gewicht verlieren oder etwas gegen seine Zuckersucht unternehmen möchte, müssen zuerst die tiefer liegenden Gründe für den Bauchspeck oder den Überkonsum von Süssem erforscht werden. «Wer erkennt, wann und warum er anfällig für falsches Essverhalten ist, kann sich selbst regulieren», berichtet Wieser aus ihrer Erfahrung. Entzug oder irgendwelche Diäten bringen deshalb nichts. Im Gegenteil: Es entsteht ein übergrosser Wunsch, das wiederzubekommen, was man dem Körper entzogen hat. «Süsses ist etwas Bekanntes und Wohliges. Schon die Muttermilch ist süss, und kaum jemand möchte darauf verzichten», weiss die Expertin. Sie rät, statt ungesundem weissem Zucker oder künstlich gesüssten Lebensmitteln Porridge, Datteln, Feigen und Früchte zu frühstücken. «Dadurch wird die Mikroflora im Darm bereits zu Tagesbeginn gut genährt, und das Suchtzentrum ist befriedigt.» Fermentierte Lebensmittel gehören ebenfalls auf den täglichen Speiseplan, um den Darm ganz natürlich gesund zu erhalten. Für Wieser ist aber auch der Genuss ein Bestandteil der täglichen Ernährung. Ihre Faustregel: «Beim Biobauern oder im Supermarkt rund 80 Prozent unverpackte, nachhaltig produzierte Esswaren kaufen. Die restlichen 20 Prozent kann man sich dann ruhig etwas gönnen, was nicht auf der Liste der gesunden Lebensmittel steht.»