Rettungsanker für die Spinnereibrücke?

Die neue Spinnereibrücke in Windisch stösst auf heftigen Widerstand. Anwohner erklären, die heutige Brücke sei erhaltenswürdig und sanierbar.
Die Diskussion geht weiter. An der über 100-jährigen Spinnereibrücke scheiden sich die Geister. Für die einen ist sie einsturzgefährdet und muss dringend ersetzt werden. (Bild: HPW)

Die Spinnereibrücke verbindet das ehemals eigenständige Dörfchen Reuss, den heutigen Gebenstorfer Ortsteil mit dem früheren Fabrikareal der Spinnerei Kunz in Unterwindisch. «Spinnerkönig» Heinrich Kunz baute 1834 einen Holzsteg, um den Fabrikarbeiterinnen und -arbeitern aus den rechtsufrigen Kosthäusern einen kürzeren Weg über die Reuss an den Arbeitsplatz zu ermöglichen und die kantonale Zollstation beim Fahrgut zu umgehen. 1916 wurde der erste Flussübergang durch eine neuartige Brückenkonstruktion in eisenbewehrtem Stampfbeton des Berner Brückenbauers Fritz Pulfer ersetzt. 

Überraschender Befund
Die Brücke blieb über Jahre in solidem Zustand. Aber im Frühjahr 2019 entdeckten Taucher unterspülte Pfeilerfundamente. Der Befund klang ziemlich drastisch: Die statischen Nachweise der Standsicherheit seien nicht mehr erfüllt, befanden Fachleute. Windisch und Gebenstorf veranlassten Sofortmassnahmen. Am Flusspfeiler wurden für 120 000 Franken Stahlprofile in den Baugrund einvibriert und mit Spannankern und Stahllaschen fixiert. Die Hilfskonstruktion sollte nach Berechnungen der Ingenieure die Lebensdauer der Brücke um fünf Jahre verlängern – bis September 2024.

Gleichzeitig empfahl eine Studie einen Ersatzneubau anstelle der Brückeninstandstellung. Deshalb lancierten die beiden Anstössergemeinden einen Projektwettbewerb. An der Präqualifikation nahmen 21 Bewerber teil, 7 wurden zu einem Projektvorschlag eingeladen. Die Jury wählte Mitte 2021 das Siegerprojekt Kanagawa aus – eine 85 Meter lange, 5,3 statt 2,8 Meter breite, stützenlose Stahlträgerbrücke. Geschätzte Kosten: 4,81 Millionen Franken. In Anbetracht der geschilderten Gefahrensituation stimmten die Gemeindeversammlung Gebenstorf und der Einwohnerrat Windisch 2021 zügig der Finanzierung mit Baubeiträgen von 2,36 beziehungsweise 2,45 Millionen Franken zu. Drei Jahre später ist wegen unvorhergesehener Probleme und wachsenden Widerstands noch nichts umgesetzt. 

Für die Befürworter ist die Spinnereibrücke ein Bestandteil des industriehistorisch bedeutsamen einstigen Spinnerei­kosmos in Unterwindisch. (Bild: zVg | Archivaufnahme Arnold Odermatt, 2000)

Baumallee im Weg
Die neue Spinnereibrücke soll hochwassersicherer und breiter werden, weil sie neu Bestandteil der Velohauptroute Brugg–Baden wird. Ihre Unterkante kommt in der Mitte 1,2 Meter und am Rand 0,7 Meter über die Kote eines 100-jährlichen Hochwassers zu liegen. Gleichzeitig wird die Brückenachse leicht abgedreht und der Brückenkopf auf Windischer Seite etwas flussaufwärts verschoben. Das bedingt die Anhebung des Brückenzugangs, was jedoch die geschützte Rosskastanienallee mit 20 Bäumen tangiert. Eine der beiden Baumreihen ist im Besitz von Anstössern. Ein Landabtausch mit ihnen kam nicht zustande. Sie wehren sich sowohl gegen die Baumfällaktion als auch gegen den Abriss und den Neubau der Brücke. 

Neun Anwohner – die zum Kern der Interessengemeinschaft (IG) Kulturerbe alte Spinnerei gehören – erhoben gegen das vor Kurzem aufgelegte ­Brückenbaugesuch Einsprache. In ihren Augen ist das Kanagawa-Projekt ein Stahlmonster, das nicht in den industriehistorischen einstigen Spinnereikosmos passt. Die bestehende Stampfbetonbrücke «System Pulfer» betrachten sie hingegen als erhaltenswertes Pionierobjekt. Aufgrund eigener Zustandsabklärungen bezeichnen sie die Befürchtungen bezüglich Hochwasser- und Einsturzrisiken beim 108-jährigen Bauwerk als «Angstmacherei» – eine kühne Äusserung in Anbetracht zunehmender Hochwasserereignisse. Zudem wird den Behörden die Missachtung des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN) vorgehalten.

«Erhellende» Nacht
Im Rahmen der fünften «hellen» Aargauer Industriekulturnacht erläuterten die IG Kulturerbe alte Spinnerei und die Schweizerische Gesellschaft für Technikgeschichte und Industriekultur einem 70-köpfigen Publikum im Kunzwerk Unterwindisch ihre ­neuesten Erkenntnisse über die Möglichkeiten zur Instandsetzung der Brücke. Die IG-Präsidentin Jasmin Morgan beleuchtete die kulturhistorische Bedeutung des Objekts und stellte dessen Konstrukteur Fritz ­Pulfer (1875–1932) vor, einen vergessenen Berner Ingenieur und Pionier des Eisenbetonbaus. Die Spinnereibrücke galt als eine der damals ­weltweit längsten Balkenbrückenkonstruktionen aus eisenbewehrtem Stampfbeton.

Laut dem ETH-Tragwerkplaner Thomas Ekwalt wäre die Ertüchtigung der unterspülten Pfeiler ohne Weiteres machbar. Die Brücke habe keine oder nur unbedeutende Setzungen erlitten. Sie würde auch künftigen Hochwassern standhalten. Wie eine Instandsetzung vor sich gehen könnte, erklärte der ETH-Bauingenieur Edgar Kälin am Beispiel der bauähnlichen und gleichaltrigen Neumühlebrücke in Lauperswil BE. Professor Eugen Brühwiler von der EPFL Lausanne legte dar, wie historische Bauwerke durch neue Ingenieurmethoden und Baumaterialien gesichert und erhalten werden können. Beispielsweise durch den Ultra-Hochleistungs-Faserbeton-Belag, der eine hohe Druckfestigkeit und lange Lebensdauer gewährleistet.

Späte «Erleuchtung»
Für die Fachleute, die an der «Hellen Nacht» zu Wort kamen, war klar, dass die Instandstellung der Spinnereibrücke technisch möglich, bauhistorisch erstrebenswert und finanziell lohnenswert wäre. Denn Berechnungen von dieser Seite gehen von einem mutmasslichen Sanierungsaufwand von 1,5 Millionen Franken aus – rund dreieinhalb Mal weniger als die veranschlagten Neubaukosten von 4,8 Millionen Franken. Falls sich dieser Unterschied erhärten sollte, müsste von einer neuen Ausgangslage gesprochen werden. 

Man hatte den Eindruck, dass sich die Promotoren des Brückenerhalts durch eigene Abklärungen und den Beizug von Fachleuten um eine fundierte Beweisführung bemühten. Das bestätigten sie ausserdem mit der 70-seitigen Dokumentation «Kulturerbe Spinnereibrücke». Solch privates Engagement um ein öffentliches Vorhaben ist aussergewöhnlich und im Grunde löblich. Doch die ultimative Forderung zur Rettung der Spinnereibrücke kommt spät, sehr spät. Das Brückenthema ist seit fünf Jahren Gegenstand öffentlicher Diskussionen sowie mehrerer rechtskräftiger Gemeindeversammlungs- und Einwohnerratsbeschlüsse, gegen die nie das Referendum ergriffen wurde.  

Aufgabe nicht erfüllt?
IG-Präsidentin Morgan macht geltend, dass es längst kritische Stimmen gegen das Vorhaben gab: «Wir wurden zwar mehrmals informiert, aber man hat uns nie wirklich zugehört.» Am Anfang sei man sich auch nicht sicher gewesen, ob die Brücke tatsächlich zu retten wäre. Deshalb sei der Widerstand verhalten gewesen. Doch inzwischen stehe fest, dass es für die Instandstellung Fachleute und neue Technologien gebe. Und jetzt sei zudem klar, dass der Erhalt der Brücke kostengünstiger, landschaftsverträglicher und ressourcenschonender wäre. Deshalb sei es gerechtfertigt, sich nochmals auf die bessere Lösung zu besinnen.

Haben sich die Verfasser der Studie, die den Neubau anstatt die Instandstellung der Brücke empfahlen, die Aufgabe zu leicht gemacht? Jasmin Morgan erklärt sich deren Haltung damit, dass Ingenieurbüros wohl lieber neue Werke planten, in denen sie ihr Können sichtbar umsetzen könnten, als Altbauten zu sanieren. Die Studienautoren beeindruckte die pionierhafte Bedeutung der Brückenkonstruktion von Fritz Pulfer offensichtlich wenig. Sie erwähnten zwar den Seltenheitswert der frühen Be­tonbalkenbrücke, gewichteten aber deren Statik- und Hochwasserrisiken stärker und plädierten deswegen
für eine neue Lösung. Von der bes­seren Hochwassertauglichkeit des stützenlosen Kanagawa-Siegerprojekts sind die Kritiker allerdings nicht überzeugt, weil sich in deren wellen­förmigen unterseitigen Spannbögen Schwemmholz leicht verfangen könnte. 

Fritz Pulfer. (Bild: zVg)

Was lässt sich machen?
Die Planer der angehobenen hochwassergeschützten neuen Brückenkons­truktion – und mit ihnen anfänglich auch die Behörden – scheinen die mit der nötigen Anpassung des Brückenzugangs auf der Windischer Seite entstehenden Probleme unterschätzt zu haben. Was lässt sich jetzt noch machen? Die Gemeindebehörden von Windisch und Gebenstorf sind an ein laufendes Verfahren gebunden. Sie haben darum sehr wenig Handlungsspielraum. Denn der Einwohnerrat beziehungsweise die Gemeindeversammlung bewilligten explizit den Brückenneubau mit den nötigen Krediten. Ordnungsgemäss wurde mit der Auflage des Baugesuchs der finale Schritt zur Umsetzung des Vorhabens eingeleitet. 

Dabei sind selbstverständlich Einwendungen gegen das Projekt, wie sie nun erfolgten, legitim. Sie bezwecken allerdings nichts weniger als den Verzicht auf den Neubau und den Erhalt der bisherigen Brücke. Das bedingt ein neues Projektierungs- und Kreditbewilligungsverfahren. Aber dürfen die beiden Gemeinderäte den ihnen erteilten Auftrag zum Brückenneubau von sich aus einfach abbrechen? Den Marschhalt könnte ein Antrag und Beschluss des Einwohnerrats und der Gemeindeversammlung legitimieren. Einen Vorschlag «Zurück auf Feld eins» hat der Windischer Mitte-Einwohnerrat Heiko Loretan bereits vor wenigen Monaten gemacht. Sein Antrag wurde aber deutlich abgelehnt.

Augenmerk aufs Geld
Jasmin Morgan betont, die Interessengemeinschaft sei entschlossen, der Erhaltung und der Instandstellung der bisherigen Spinnereibrücke zum Durchbruch zu verhelfen. Sollten ihre Einsprachen abgelehnt werden, stünde der Rechtsweg allenfalls bis ans Bundesgericht offen. Wer weiss, wie «Lausanne» entscheiden würde, falls die Beschwerdeführenden glaubhaft machen könnten, dass das Brückenneubauprojekt nicht mit dem BLN-Inventar zu vereinbaren sei. Wenn immer möglich, so Morgan, strebe man jedoch eine aussergerichtliche Lösung an.

Was in der weiteren politischen Diskussion über das Brückenthema kaum mehr auszublenden sein wird, ist der nun klar zutage tretende grosse Kostenunterschied zwischen den beiden Varianten. Aber es bleibt noch die Frage der künftigen Nutzungsansprüche an die Spinnereibrücke. Konkret: Wäre die inzwischen vom Kanton festgelegte Hauptveloroute Brugg–Baden – die mit ein Argument für eine verbreiterte neue Brücke ist – auch auf der schmaleren alten Brücke möglich? Sicher ist: So schnell werden die Würfel über Fritz Pulfers Betonbalkenbrücke aus Stampfbeton nicht fallen, selbst wenn die ihr vor fünf Jahren bescheinigte Restlebensdauer diesen Herbst abläuft.