Digitale Nachlässe

Wenn eine verstorbene Person keine Anweisungen hinterlässt, stehen die Erben oft ratlos vor einer intimen digitalen Datenmasse.
Jean-Daniel Strub. (Bild: zVg | Sylvie Fee Matter)

Einen geliebten Menschen zu verlieren, ist schmerzhaft und schwierig. Der Umgang mit dem digitalen Erbe, das jemand hinterlässt, kann den Tod einer nahen Person noch schwerer machen. Denn zur Verwaltung dieses Erbes gehört die Weisung, das Leben, das Schaffen und die Persönlichkeit in digitaler Form zu erhalten. Die Möglichkeiten, die das Internet, die sozialen Netzwerke und sogar die künstliche Intelligenz eröffnen, stellen die gewohnten Trauerrituale auf den Kopf und werfen die Frage auf, welche neuen Bedürfnisse im Bestattungswesen am Entstehen sind. Der Tod im digitalen Zeitalter betrifft individuelle und gesellschaftliche Aspekte. Es ist nicht nur eine persönliche Angelegenheit, sondern zeigt auf, wie tiefgreifende gesellschaftliche und ethische Fragen zunehmend ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden.

Jean-Daniel Strub ist Ethiker, Co-Gründer und Co-Geschäftsführer von Ethix, dem Lab für Innovationsethik in Zürich, sowie stellvertretender Leiter des Instituts Neumünster der Gesundheitswelt Zollikerberg. Er hat die aktuelle Studie der Schweizer Stiftung für Technologiefolgen-Abschätzung (TA-Swiss) zum «Tod im digitalen Zeitalter» geleitet (ta-swiss.ch/tod-im-digitalen-zeitalter). 

Die Redaktion hat sich mit Jean-­Daniel Strub über die wichtigsten Regeln und Vorgehensweisen unterhalten.

Viele Menschen hinterlassen nach ihrem Tod digitale Spuren, zum ­Beispiel in sozialen Medien, E-Mails, Cloud-Diensten oder Onlinekonten. Wie soll am besten mit diesen Daten umgegangen werden, damit die Hinterbliebenen sich einen Überblick verschaffen können?
In allererster Linie gilt: Halten Sie fest, wo Ihre Dokumente, letzten Wünsche und nicht zuletzt Passwörter zu finden sind. Klären Sie Wichtiges rechtzeitig, wo nötig mit notarieller Unterstützung. Und nutzen Sie – falls Sie sich für solches erwärmen können – einen der in letzter Zeit entstandenen digitalen Dienste, die es erlauben, alle relevanten Dokumente und Informationen digital auf einer Plattform abzulegen und im Fall der Fälle verfügbar zu machen, und die je nachdem auch die Abmeldung bei digitalen Diensten, das Versetzen eines Social-Media-Kontos in den Gedenkzustand und weitere Schritte für Sie übernehmen. Für Hinterbliebene ist es enorm entlastend, wenn sie in der schwierigen Phase der Trauer nach einem ­Todesfall möglichst wenig Umtriebe mit den digitalen Spuren ihrer Lieben haben. 

Das Erbrecht ist in vielen Ländern nicht auf die aktuellen digitalen Realitäten eingestellt. Wie sieht es damit in der Schweiz aus?
In der Schweiz sind viele Bestimmungen im Erbrecht auch auf die ­Fragen anwendbar, die sich rund um digitale Hilfsmittel im Umgang mit Trauer und Tod stellen. Lücken werden vor allem dort gesehen, wo es um die rechtmässige Hinterlegung einer letztwilligen Verfügung (also z. B. eines Testaments) und um die Möglichkeit geht, eine solche auch in ­digitaler Form rechtsgültig zu erstellen. 

Die Art und Weise, wie Menschen trauern und ihre Trauer ausdrücken, hat sich durch das digitale Zeitalter verändert. Onlinegedenkseiten, virtuelle Trauerfeiern und Gruppen in sozialen Netzwerken bieten neue Möglichkeiten der Unterstützung und des Gedenkens. Wie erleben Sie das, welche ­Entwicklungen haben Sie wahr­genommen?
Erinnerungen konservieren, mit Verstorbenen in Kontakt bleiben, die eigene Endlichkeit überwinden: Diese Wünsche sind so alt wie der Mensch selbst, der seit jeher nach ihrer Erfüllung strebt. Es ist nur logisch, dass digitale Technologien genutzt werden, um diesen Zielen näherzukommen. Die ersten Onlinegedenkseiten, sind entstanden, kurz nachdem das Internet allgemein zugänglich wurde, also schon vor bald 30 Jahren. In jüngerer Zeit führt nun die künstliche Intelligenz zu immer neuen Angeboten. An manchen Orten, zum Beispiel in China, scheinen inzwischen Chatbots, mit denen mit Verstorbenen eine Form der Konservation aufrechterhalten werden kann, sehr beliebt. Sinnigerweise spricht man hier von «Deadbots». Ob sich das aber breit durchsetzt und bei uns Fuss fasst, ist schwer abzuschätzen – ich würde es eher bezweifeln. Man sieht zudem, dass die meisten Menschen, die digitale Hilfsmittel im Kontext von Trauer und Tod nutzen, dabei auf längst etablierte Social-Media-Plattformen, beispielsweise Facebook, zurückgreifen. 

Posthume Identität: Die Frage, was mit der Identität einer Person ­passiert, die verstorben ist, ist ein ­weiteres Thema. In sozialen Medien lebende Profile können weiterhin aktiv sein, und oft werden Inhalte nach dem Tod eines Nutzers weiterhin geteilt oder kommentiert. Wie stellen Sie sich dazu, finden Sie diese Entwicklung gut?
Diese Entwicklung ist selbstverständlich ambivalent. Es kann verstörend sein, wenn man lang nach dem Tod einer Person plötzlich und ungewollt wieder ihren Spuren im Netz begegnet. Für viele Menschen ist es aber tröstend und kann bei der Trauerarbeit hilfreich sein, Erinnerungen auf diese Art zu pflegen. Für mich selbst sehe ich darin aktuell eher keinen Gewinn – aber wie so oft heisst das nicht, dass es für alle so sein muss. 

Künstliche Intelligenz und digitale Avatare: Mit Fortschritten in der künstlichen Intelligenz werden ­Modelle entwickelt, die eventuell in der Lage sind, Verstorbenen eine Art digitale Weiterexistenz zu ermöglichen, zum Beispiel durch Chatbots, die den Kommunikationsstil einer verstorbenen Person simulieren. Wie soll damit umgegangen werden?
In unserer TA-Swiss-Studie heben wir drei Dinge hervor: Diejenigen, die solche Tools entwickeln, müssen erstens dafür sorgen, dass den Nutzenden stets klar ist, dass sie es mit einem künstlichen Gegenüber zu tun haben. Abhängigkeit und Einsamkeit sollen nicht gefördert werden. Zweitens muss gewährleistet sein, dass niemand damit rechnen muss, dass seine Wesenszüge oder seine äussere Erscheinung (Körper, Stimme usw.) posthum in einer Art verändert wird, die seinen Interessen zuwiderläuft oder seinen Willen missachtet. So soll es beispielsweise nicht erlaubt sein, dass eine beliebte verstorbene Politikerin als Deep Fake «reanimiert» wird und in einem Wahlkampf plötzlich Positionen vertritt, denen sie zu Lebzeiten nie zugestimmt hätte. Und drittens muss ein Recht auf Löschung von Profilen, Bots und Avataren bestehen und durchgesetzt werden. 

Und zum Schluss: Der Umgang mit Trauer und Tod ist etwas sehr Individuelles: Was den einen Trost spendet und ihnen hilft, über den Verlust eines Menschen hinwegzukommen, kann bei anderen die gegenteilige Wirkung erzielen und ihnen das Abschiednehmen erschweren. Umso mehr gilt auch für die digitalen Hilfsmittel in den Bereichen «Death Tech» und «Grief Tech», dass zwar sorgfältig auf die Risiken geschaut werden muss, dass darob aber mögliche Chancen nicht ausser Acht gelassen werden sollten. Aus ethischer Sicht ist zentral, dass jede Beschäftigung mit diesen Themen immer freiwillig bleiben muss und den einzelnen Menschen weder technisch noch rechtlich oder moralisch «verordnet» werden sollte.