Spätziehende auf der Winterflucht

Der Zug der Kraniche markiert die letzte Phase des Herbstzugs. Doch auch während der Wintermonate gibt es noch Zugbewegungen.
Ziehende Kraniche am Abendhimmel lassen sich nun öfter in der Schweiz beobachten. (Bilder: bhe)

Jetzt im Spätherbst ziehen die Kraniche. Oft kann man ihr Trompeten, das wie «grru-grii» klingt, hören, bevor man sie sieht. Von diesem Ruf kommt ihr wissenschaftlicher Name Grus grus. Kraniche ziehen in grösseren und kleineren Trupps in ihre Überwinterungsgebiete, mit dabei sind die Jungvögel der vergangenen Brutsaison. Um Energie zu sparen, fliegen sie in einer Kette oder in V-Formation. Der Vogel an der Spitze wird regelmässig abgelöst, denn es ist kräftezehrend, ganz vorn zu fliegen, während es die anderen im Windschatten einfacher haben.

Die Überwinterungsgebiete der in Nordeuropa brütenden Kraniche liegen vor allem in Spanien, Frankreich und Nordafrika. Auf ihrem Weg dorthin benutzen sie traditionelle Zugrouten. Der westliche Zugweg führt von Skandinavien und das Baltikum in einem engen Korridor südwestwärts über Norddeutschland und Frankreich nach Spanien. Ein weiter östlich liegender Zugweg führt von Finnland via Ungarn und Italien nach Nordafrika. Die Schweiz liegt nicht an diesen Zugrouten. Im Jahr 2011 änderte ein Teil der östlichen Kranichpopulation seine Route und zieht seither via Südfrankreich nach Spanien. Dabei überqueren die Vögel das Schweizer Mittelland, und ihr Zug führt immer wieder über unsere Region. Kraniche fliegen am Tag und in der Nacht. Dann kann man nur ihre wehmütigen Rufe am Nachthimmel hören. Kraniche müssen auf dem Zug öfter ausgiebig rasten, um ihre Fettreserven aufzufüllen. Ein bekannter Rastplatz liegt beispielsweise am Lac du Der in der französischen Region Champagne, wo zu gewissen Zeiten bis zu 300 000 Kraniche gleichzeitig rasten.

Zu den am spätesten durchziehenden Vogelarten gehören die Goldregenpfeifer. Die hübschen, goldgelb gemusterten Wattvögel kann man mit etwas Glück meist noch Anfang ­Dezember auf einem Feld rastend entdecken.

Den spät ziehenden Goldregenpfeifer kann man noch Anfang Dezember auf einem Feld entdecken.

Dem Schnee entfliehen
Viele Greifvögel, wie zum Beispiel Mäusebussarde und häufiger auch Rotmilane, verbringen die Winterzeit hier in den Schweizer Brutgebieten. Da die Winter in den letzten Jahren milder geworden sind und in den tiefsten Lagen oft kein Schnee fällt, finden sie auf den schnee- und frostfreien Äckern genügend Nahrung in Form von Feldmäusen und Regenwürmern. Bei einem plötzlichen Wintereinbruch mit geschlossener Schneedecke wird die Nahrung für die Greifvögel aber schnell knapp. Dann bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich einen neuen Ort mit besseren Bedingungen zu suchen. So konnten nach dem ungewohnt frühen Wintereinbruch der letzten Woche in Brugg viele Greifvögel beobachtet werden, die in grösseren Trupps über den Bruggerberg westwärts zogen. Dieses Verhalten bezeichnet man als Winter- oder Schneeflucht. Dasselbe kann man bei den Weissstörchen beobachten. Sie galten in früheren Jahren als typische Langstreckenzieher, die den Winter in Afrika verbrachten. Heute verbleiben mehr und mehr Störche im Winter in Mitteleuropa. Bei einem plötzlichen Kälteeinbruch im Überwinterungsgebiet ziehen diese ein Stück weiter südwärts oder in tiefere Lagen, wo sie an Orten ohne Schneedecke oder Bodenfrost noch Futter finden. So konnten in den letzten Wintern Weissstörche «auf Winterflucht» in den Feldern der Region zwischen Brugg und Veltheim beobachtet werden.

Rotmilane verbleiben immer häufiger im Winter in ihren Schweizer Brutgebieten.

Von den Bergregionen ins ­Mittelland
Eine spezielle Kategorie unter den Zugvögeln sind die sogenannten Vertikalzieher. Darunter versteht man Arten, deren Brutgebiete in den Bergregionen liegen. Im Winter ziehen einige dieser Arten statt südwärts in tiefere Lagen. Für sie ist quasi das Mittelland «der Süden». Zu ihnen gehören beispielsweise die Erlenzeisige. In der Schweiz brüten sie überwiegend in den Alpen und im Schweizer Jura in Höhen von 1000 bis 2000 Meter über Meer, wo die Wälder einen hohen Anteil an Fichten aufweisen. Auf diesen bauen sie ihre Nester. Im Winterhalbjahr von Oktober bis März sind die Erlenzeisige vorwiegend in der offenen Landschaft, in Parks und naturnahen Gärten anzutreffen, wo sie hauptsächlich Erlen-, Birken- und andere Pflanzensamen fressen. Sie ziehen dann in grösseren Trupps mit weit über 100 Vögeln umher, stets auf der Suche nach genügend Winterfutter. 

Erlenzeisige verbringen den Winter im Mittelland, wo sie sich von Baum- und Pflanzensamen ernähren.

Das gleiche Verhalten zeigen die Bergpieper, die in noch höheren Berglagen bis gegen 3000 Meter über Meer brüten. Nach der Brutzeit ziehen die Bergpieper talwärts und überwintern bevorzugt an den Ufern von Flüssen und Seen.