Ein mustergültiger «Milizler»

René Grütter hat mit dem Rücktritt als Gemeindeammann von Birr ein langes, freiwilliges Engagement in öffentlichen Bereichen beendet.
René Grütter weiss, was er mit der Zeit ohne öffentliche Ämter anfangen will. (Bild: hpw)

Das Milizprinzip prägt die Schweizer Beteiligungsdemokratie – will heissen: Die meisten öffentlichen Aufgaben werden von engagierten Bürgerinnen und Bürgern ehren- oder nebenamtlich erfüllt. Einer, der den Milizgedanken verinnerlicht und in mehreren Bereichen, vor allem in der Gemeindepolitik und im Militär, gelebt hat, ist der 69-jährige René Grütter. Bis Ende Jahr war er Gemeindeammann von Birr. 

Das Bauen im Blut
René Grütter lernte das Bauen von der Pike auf und eignete sich auch die Kunst des Brückenbauens an – im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Nach der Maurerlehre mit Berufsmaturabschluss bildete er sich zum Bauführer und Baumeister weiter. Eine Zeit lang betrieb er das väterliche Baugeschäft und war abschliessend, bis zur etwas vorgezogenen Pensionierung 2018, als Bauleiter beim Energieunternehmen Axpo für Tief- und nukleare Bauten in den Kernkraftwerken Leibstadt und Beznau verantwortlich.

Er erbte die Vorliebe für das Bauwesen. Schon der Vater war leitender Bauführer bei der 1958 errichteten Strassenbrücke in der Schöllenenschlucht, der kühnen dritten Teufelsbrücke, sowie beim Bau des neuen Urner Kantonsspitals. 1962 zog es den gebürtigen Niederlenzer mit der Familie aus Altdorf zurück in den Aargau. Er kaufte das Baugeschäft von Ernst Mattenberger in Birr. Hier wuchs René mit zwei Brüdern auf. Sein Zwillingsbruder Markus wurde Architekt, der ältere Bruder André Bauingenieur. 

Der Milizoffizier
Eine enge Beziehung hat René Grütter auch zum Waffenplatz Brugg, auf dem er die Rekrutenschule sowie die Offiziersschule absolvierte und den Grad des Hauptmanns abverdiente. Er kommandierte als Milizoffizier eine Genie-Stabskompanie, wurde als Major Technischer Offizier beim Geniebataillon 34 und Chef Versorgung im Genieregiment 6. Um eine Überbelastung bei einem Immobiliengeschäft wegen unerwartet ausgestiegener Partner abzuwenden, brachte René Grütter 1998 seine Firma in die Bila Bau Birr ein und war vorübergehend deren Geschäftsführer. 

1999 bot ihm Swissint, das Kompetenzzentrum der Schweizer Armee für die Friedensförderung im internationalen Rahmen, als Oberstleutnant die Zeitmilitärfunktion des Geniechefs an. Er bildete auf dem Waffenplatz Brugg einen Pionierzug für den Einsatz im Kosovo aus. Bei Inspektionsbesuchen im kriegsversehrten Land lernte er die von den Amerikanern zurückgelassene «Mabey-Johnson-Bridge» kennen, ein geniales, modulares Brückensystem mit bis zu 120 Metern Länge und 50 bis 70 Tonnen Tragkraft. Er überzeugte die Armee zum Kauf von drei solchen mobilen Anlagen; sie werden von den Rettungstruppen bei der Katastrophenhilfe eingesetzt.

«Politische Luftveränderung»
René Grütter heiratete 1981 die Wirtstochter des Birrer Restaurants Linde, Ruth Nyffenegger. Das Ehepaar wohnte mit seinen drei Kindern zuerst in Scherz. Weil er sich aktiv am Dorfleben und in der Feuerwehr engagierte, wurde René Grütter bereits nach vier Jahren in die Gemeindebehörde gewählt. Von 1986 bis 1994 amtete er als Gemeinderat und Vizeammann. 2010 übernahm Ruth Grütter bei der Familienerbschaft die «Linde» und kehrte mit der Familie in ihr Elternhaus nach Birr zurück. Sie verpachtete die altbekannte Dorfwirtschaft und schloss sie nach drei kurzzeitigen Wirtewechseln.

Wie schon in Scherz wurde René Grütter, wieder nach vierjährigem Aufenthalt, 2014 in den Gemeinderat Birr gewählt. Er hatte nach dem 2013 fallierten Gemeindezusammenschluss mit Birrhard den Eindruck, seiner Wohngemeinde täte eine «politische Luftveränderung» gut. Offensichtlich war die Bevölkerung auch dieser Meinung und übertrug René Grütter 2018 noch das Gemeindeammann-Amt. Er übte es mit Freude und Geschick aus, wie bei seiner Verabschiedung betont wurde. Aber er investierte viel Zeit, weil er einige Projekte selbst leitete. Das war nur dank dem Pensioniertenstatus, dem Verständnis der Gattin und einer guten Gemeindeverwaltung möglich, wie er selber sagte. 

Der Sonderfall Birr
Birr ist mit 45 Prozent Ausländeranteil an der 4600-köpfigen Bevölkerung ein aargauischer Sonderfall (der Kantonsdurchschnitt beträgt 27,6 Prozent). Der Grund liegt im Bau des BBC-Werks in den 1960er-Jahren, der grössten Fabrikanlage der Schweiz, und der Wohnsiedlung Wyden für Werkangestellte. Die ausländischen Bewohner stammen heute aus 71 Nationen. Obwohl Birr 1200 Einwohner mehr zählt als Lupfig, haben beide Gemeinden fast gleich viele Stimmberechtigte. Laut René Grütter ist das Interesse an den Gemeindeangelegenheiten eher lau – nicht zuletzt bei eingebürgerten Bewohnern. 

Ist die Grossindustrieanlage ein Klumpenrisiko für Birr? Seit der Zeit von Alstom und General Electric sei die Zahl der Beschäftigten stark gesunken, erklärt René Grütter. Grosse Teile der mächtigen Fabrikhallen werden nicht mehr für Produktions-, sondern zu Lager- und Logistikzwecken genutzt. Gut sei, betont der abgetretene Ammann, dass nun das Indus­triegebiet Grossacher-Grädel südlich der GE-Hallen für rund 3000 neue Arbeitsplätze entwickelt werde.

Erstrebtes und Erreichtes
Als grösste Aufgaben und Herausforderungen in seiner elfjährigen Zugehörigkeit zur Gemeindebehörde bezeichnet René Grütter die Revision der Bau- und Nutzungsplanung, die Bewältigung der Coronaphase, die enge Begleitung der rekordhaft schnellen Erstellung des Notkraftwerks Birr (das der Gemeinde eine jährliche Inkonvenienzentschädigung von einer Million Franken einbringt) sowie die Gründung der Interkommunalen Anstalt (IKA) mit der Nachbargemeinde Lupfig, dem Bau des gemeinsamen Werkhofs und der Zusammenlegung der Forstbetriebe, Bauämter und Wasserwerke. 

Wieso Lupfig trotz des gelungenen Kooperationsprojekts bei der Fortsetzung der Fusionsabklärungen mit Birr nun plötzlich bremst, deutet René Grütter mit «Grindologie», will heissen: unterschiedliche Anschauungen und Bewertungen etwa bezüglich der Bevölkerungsstruktur, der begüterten Lupfiger und der armen Birrer Ortsbürgergemeinde, und vielleicht auch nicht verdauter «alter Geschichten». Birr, so René Grütter, verspräche sich von einer vereinigten Gemeinde Birr-Lupfig mit 8000 bis 9000 Einwohnern mehr Gewicht sowie Vorteile in der Verwaltung und der Bewältigung kommender Infrastrukturaufgaben (Schulen, Strassen, Wasserversorgung). 

Mehr Zeit
Was macht René Grütter mit der freien Zeit nach der Abgabe des Gemeindeamman-Amtes? Die Antwort kommt ohne Zögern: «Mehr Zeit mit meiner Frau verbringen, sie hat auf vieles verzichtet und mich stark unterstützt. Auch unsere acht Enkel geniessen ihren Grossvater gern mehr.» Zudem führen die Grütters das Gästehaus «Linde» mit 14 Zimmern beziehungsweise Studios weiter. Auch sportlich gibt es Pläne: das Inlineskaten wieder stärker pflegen.