Kommt Tempo 30 am Baslerstich?

Der Kanton muss für die Strassensanierung in der Brugger Vorstadt und am Baslerstich ein Verkehrsgutachten erstellen und Tempo 30 erwägen.
In der Vorstadt, am Zollplätzli und am anschliessenden Baslerstich soll die K116 wesentlich umgebaut und durch Tempo 30 leiser gemacht werden. (Bild: zVg)

Das aargauische Verwaltungsgericht hat 14 Beschwerdeführenden weitgehend recht gegeben, die sich gegen die vom Regierungsrat und von der Stadt Brugg genehmigte Sanierung der Kan-tonsstrasse K116 in der Brugger Vorstadt und am Baslerstich wehrten. Bevor das Projekt umgesetzt werden kann, muss der Kanton mit einem Verkehrsgutachten aufzeigen, wie die von An-wohnerinnen und Anwohnern im Perimeter geforderte Herabsetzung der Geschwindigkeit von 50 auf 30 km/h die Verkehrssicherheit sowie die Lärm- und Luftschadstoffbelastung beeinflusst.
Dem 60-seitigen Gerichtsurteil ist kantonaler Leitcharakter zuzumessen, weil es sich wie noch selten in einem solchen aargauischen Fall formaljuristisch und detailliert mit den rechtlichen Bedingungen und den Konsequenzen einer Temporeduktion auf einer viel befahrenen Kantons-strasse auseinandersetzt. Die dritte Kammer des Verwaltungsgerichts widerspricht in ihren Begründungen auch etlichen Argumenten des federführenden Departements Bau, Verkehr und Umwelt (BVU).

Umfassendes Sanierungsprojekt
Der Sanierungsabschnitt erstreckt sich auf 443 Metern Länge von der Einmündung der Län-distrasse an der östlichen Perimetergrenze bis zur Einmündung des Remigersteigs in die Baslerstrasse an der westlichen Peripherie. Das Projekt tangiert die Vorstadt, das Zollplätzli und den Baslerstich. Komplett erneuert werden sollen der Strassenoberbau und der Belag, die Strassenentwässerung und die Kanalisation sowie teilweise die Gehwege und die Strassenbe-leuchtung. Es wird mit Kosten von 5,27 Millionen Franken gerechnet, worin die Erneuerungen der Werkleitungen durch die Stadt Brugg noch nicht enthalten sind.
Am Baslerstich soll Platz geschaffen werden für einen Radstreifen und einen neuen Gehweg bergseits. Die bestehende Stützmauer wird drei Meter zurückgesetzt und die heutige Brüs-tungsmauer auf dem Lehnenviadukt unterhalb des «Schützengartens» durch ein Geländer er-setzt. Das verbessert die Sicht auf die Aare­schlucht und verändert die Wahrnehmung der Ein-fahrt in die Vorstadt/Altstadt. Am Anfang des Baslerstichs werden auf gleicher Höhe und auf den Fahrbahnen stadteinwärts und -auswärts Haltestellen für je zwei Gelenkbusse platziert. Dafür wird die Haltestelle in der Vorstadt Richtung Casinobrücke aufgehoben. Am Zollplätzli sind ein zweiter Fussgängerstreifen nahe der neuen Bushaltestellen sowie die Vergrösserung der Fussgänger­fläche vorge­sehen.

Konfusion und Opposition
Das Sanierungsvorhaben hat eine lange Vorgeschichte. Es wurde Anfang der 2000er-Jahre von einer Motion im Einwohnerrat angestossen und 2011 in einem Vorprojekt konkretisiert. Im Juni 2018 diskutierte das Stadtparlament über das Projekt und Bruggs Kostenbeitrag. Die Sitzung verlief konfus. Einige Details waren umstritten; schliesslich wurden die Bushaltestellen auf den Fahrbahnen am Baslerstich akzeptiert, aber die vorgeschlagene neue Pflästerung am Zollplätzli und auf der Aarebrücke zurückgewiesen. Und es wurde bedauert, dass die Einführung von Tem-po 30 nicht zur Diskussion stand.
Das Bauprojekt lag im Januar/Fe­bruar 2020 öffentlich auf. Mehrere Bewohner in der Vorstadt und am Baslerstich verlangten Verbesserungen. Der Regierungsrat stimmte einigen Einwen-dungen zu und genehmigte im September 2023 Projekt und Baukredit. Dagegen erhoben 13 Privatpersonen sowie die Genossenschaft Altstadt Brugg beim Verwaltungsgericht Beschwerde. Ihr Hauptbegehren war die Lärmsenkung durch eine Temporeduktion auf 30 km/h. Zur Erhärtung dieses Anliegens forderten sie ein Verkehrsgutachten. Ebenfalls eine Expertise verlangten sie von der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission zur Klärung, ob sich das Strassenprojekt mit den Bestimmungen des Bundesinventars für schützenswerte Landschaften und Ortsbilder in Bezug auf die Vorstadt/Altstadt und die Aareschlucht verträgt.
Die Rechtsabteilung des Baudepartements beantragte im März 2024 im Namen des Regierungsrats die Abweisung aller Beschwerden. Aber diesem Begehren folgte das Verwaltungsgericht zehn Monate später – relativ schnell – nicht. Es lehnte nur das verlangte Gutachten der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission ab. Im Übrigen bekamen die von einem in der Sache erfahrenen Anwaltsbüro gut beratenen Beschwerdeführenden grösstenteils recht. Zwar versuchten ihnen die kantonalen Instanzen beim Schriftenwechsel der Parteien mit mehreren Fachberichten aus Verwaltungsabteilungen des BVU Paroli zu bieten, doch nicht alle Abhandlungen überzeugten das Gericht. Die Stadt Brugg blieb in diesem Meinungsaustausch übrigens stumm.
Die Beschwerdeführenden betonten, dass die Immissionsgrenzwerte bei zahlreichen an die K116 angrenzenden Liegenschaften trotz Flüsterbelag nicht einzuhalten, sondern nur mit der zusätzlichen Temporeduktion auf 30 km/h zu erreichen wären. Der Kanton ging hingegen von einer «knappen Erfüllung» aus und machte zudem geltend, es handle sich um eine Strassensa-nierung ohne wesentliche Änderungen, weshalb keine strengeren Immissionsvorschriften einzuhalten seien. Das Gericht taxierte diese Darstellung als «unzutreffend oder unpräzise»: Der Umfang des Strassenausbauprojekts sei bedeutsam, womit laut Umweltschutzgesetz und Luftreinhalteverordnung die Immissionsgrenzwerte für die Umgebung zwingend erfüllt werden müssten.

Nötige Sachverhaltsabklärung
Das Verwaltungsgericht zog bei der Beurteilung des Sachverhalts auch neuere Erkenntnisse der Lärmforschung in Betracht. Zum Beispiel das Wissen darüber, dass sich mit Tempo 30 eine ge-ringere Belästigung ergibt, was inzwischen in die Rechtsprechung des Bundesgerichts einfloss. Zwar anerkannte das Gericht, dass dem Regierungsrat bei den Sanierungsmassnahmen ein Ermessensspielraum zustehe. Die Ausübung des Ermessens bedinge jedoch eine vollständige Sachverhaltsabklärung und Ermittlung aller auf dem Spiel stehenden Interessen. Ein Verkehrs-gutachten sei ein geeignetes Instrument, um die Notwendigkeit, die Zweckmässigkeit und die Verhältnismässigkeit einer Geschwindigkeitsreduktion zu prüfen.
Der Strassensanierungsabschnitt ist ausserdem Schulweg. Das Baudepartement meinte zu diesbezüglichen Sicherheitsbedenken, die Beurteilung eines zumutbaren Schulwegs liege in der Verantwortung des Schulträgers. Der Kanton sei nur für einen normgerechten Ausbau der Ver-kehrsträger verantwortlich. Doch diese Einschätzung greife zu kurz, befand das Verwaltungsge-richt; ein unsicherer Schulweg könne sehr wohl Anlass für die Einführung von Tempo 30 geben. Das Gericht hält den Regierungsrat dazu an, den Beschwerdeführenden vom Road Safety Audit (RSA) des BVU von 2016 Kenntnis zu geben und den Projektentscheid vom Herbst 2023 neu zu beurteilen.

Was bedeutet das Urteil?
Mit dem Verwaltungsgerichtsentscheid wird die lange Sanierungsgeschichte der K116 um ein Kapitel verlängert. Was bedeutet das? Löst es eine erneute Planauflage mit allem Drum und Dran aus? Der Entscheid könnte auch noch an das Bundesgericht weitergezogen werden. Die vom Verwaltungsgericht verlangten Korrekturen sind allerdings kaum als eigentliche Projektän-derungsaufträge zu verstehen. Es geht im Wesentlichen darum, eine Temporeduktion von 50 auf 30 km/h in Betracht zu ziehen und, bei bewiesenen Verbesserungen, zu verfügen, um durch die Lärmminderung die rechtlich ge­botene Einhaltung der Immissionsgrenzwerte zu erreichen.
Das Tempo-30-Anliegen wurde schon bei der Projektgenehmigung vor sieben Jahren im Brugger Einwohnerrat vorgebracht. Aber damals gingen Temporeduktionen sowie Fahrbahn-Bushaltestellen auf viel befahrenen Kantonsstrassen den zuständigen kantonalen Instanzen noch klar gegen den Strich. Diese Haltung wurde seither – bis in die Rechtsprechung – aufge-weicht. Deshalb stehen die Chancen der 14 beschwerdeführenden Anwohnerinnen und Anwoh-ner in der Vorstadt und am Baslerstich nicht schlecht, dass ihre Lärmqualen durch einen Flüs-terbelag plus eine Temposenkung gemindert werden.